ein sehr guter Schriftsteller war und wohl meinte, eine Holz¬
schachtel, die jemand, der sterben muss, auf den Tisch legt, gibt
ein Geräusch auf dem Holz der Tischplatte, das geeigneter ist,
als das einer Blechschachtel oder das Geräusch einer Silberdose.
Vielleicht erfinde ich das jetzt auch nur, aber Film sowieso und
auch Geschichten sind Fiktion, auch wenn sie wahr sind.“
Zur Geschichte meiner Mutter schreibe ich nun hier und jetzt
das wahre Ende, obwohl die Aufnahmsprüfung lang zurück liegt.
Es scheint mir vordergründig unspektakulärer, aber ich muss
es erzählen, auch wenn dafür vermutlich niemals irgendwelche
Kassen klingeln werden — oder gerade deshalb:
In Altsimmering hatte Liesl zu mir etwas Folgendes gesagt:
„Wenn deine Mutter dieses Lied mitgesungen hat, was ich ihr
natürlich glaube, woran ich mich aber absolut nicht erinnern
kann, so wusste ich sicherlich ebenso wenig wie sie, was dieses
Lied bedeutet. Ich hab auch jetzt nicht, wie du den Text gesagt
hast, an so was gedacht. Weißt du, es ist einfach so gar nicht die
Geschichte von zwei befreundeten Mädchen, die eine ist Jüdin,
die andere nicht, und als es ernst wird, da lässt das nichtjüdische
Mädchen das andere im Stich. Was für mich zählt ist, dass deine
Mutter ja vorher mit mir gar nicht besonders befreundet gewe¬
sen war, sondern genau, als es brenzlig wurde, und zwar genau
deshalb, im März 38 nach dem Einmarsch, begonnen hat, sich
Die Sonne steht wieder ein Stück tiefer, die Schatten sind länger
geworden, und ich benutze sie nun, um damit die Geschichten
meiner eigenen Schattenspiele zu spinnen.
Wenn ich will, sitzt mein Vater im Fauteuil, er raucht ungeniert
und benutzt manchmal den Aschenbecher, den ich ihm geschenkt
habe, in den er auch die Zündhölzer wirft.
Meiner Mutter habe ich den wahren Schluss ihrer Geschichte
vorgelesen, und sie fand ihn gut.
Das Beste aber ist:
Die Schatten werden wieder kürzer, weil ein neuer Tag begon¬
nen hat.
Alexander Melach, als Sohn des Schrifistellerpaars Friedl Hofbauer
und Kurt Mellach geboren 1958 in Wien, studierte Drehbuch und
Dramaturgie an der Filmakademie in Wien, diplomierte auch in
Sozialmanagement, Schauspielausbildung, Mitbegründer des „Theätre
de la Grenouille“ in der Schweiz und der „Wiener Wanderbühne“,
Verfasser von Stücken für Kinder, Drehbuchautor und Fernsehfilm¬
regisseur. Lebt in Wien.
Besuch bei Karl-Markus Gauß
„Das ist ein sehr unspezifischer Text für mein Schaffen, wenn
ich das so sagen kann“ — das ist der erste Kommentar, mit dem
sich Karl-Markus Gauß zu seinem neuen Buch „Das Erste, was
ich sah“, äußert, nachmittags in seiner Salzburger Wohnung bei
Kamillentee und lettischen Zuckerbrezeln, die aber „bitte mit
Vorsicht zu genießen“ seien.
Die Wohnung liegt nicht unweit von dem Viertel, in dem er in
den späten 50er-Jahren als Kind aufwuchs, dem Stadtteil, den er in
seinem neuen Buch sowohl hinsichtlich der Topographie als auch
der sozialen Verhältnisse der damaligen Zeit detailreich skizziert.
Auf die Frage, inwieweit der Bezug zu den früheren Arbeiten
für ihn denn notwendig sei, fällt schnell der Begriff des „Werkes“:
Es gibt noch ein paar Autoren, die am Ende ihres Lebens nicht
nur einen Haufen Bücher geschrieben, sondern so etwas wie ein
Werk haben, und ein Werk setzt sich nicht nur aus vielen verschie¬
denen Büchern zusammen, sondern so, dass sich etwas entwickelt,
zusammenhängt — bei mir sind das einerseits die Reisereportagen,
die mich immer zu den kleinsten Nationalitäten geführt haben, also
ein gewisses Interesse für die randständigen Kulturen, andererseits
dann die Journale.
Auch so eine ganz subjektiv persönliche Art, verschollene Kultur¬
traditionen oder verschwindende Dinge, die kaum mehr jemand
kennt, noch aus der Vergessenheit zu holen, aber nicht akademisch,
sondern immer mit einem persönlichen Bezug zu mir, der auch ein
teilweise kurioser oder randseitiger sein kann.
Diese Fülle an Dingen, die auf mich einstürmen, möchte ich im¬
mer egomanisch auf mich beziehen, um meine Persönlichkeit weiter
auszubilden — ich hege die Illusion, dass man trotz allem irgendwie
noch einen Platz in der Welt finden kann, und den kann ich nur
schreibend finden.
„Das Erste, was ich sah“ schlägt somit, trotz weiteren Suchens nach
diesem Platz, deutlich eine andere Richtung ein, im wörtlichsten
Sinne der Bewegung: In den Journalen und Reportagen findet eine
Hinwendung nach außen statt, zur Weltpolitik, zu unbekannten
Nationalitäten, wobei die Außenwelt auf die Innenwelt einwirkt —
jetzt hingegen erfährt die Perspektive eine Wendung nach innen,
die möglicherweise die Sicht auf die Außenwelt verändert, durch
Wiedereinholen anstelle von Erfahren.
Was weiterhin stattfindet, ist die Arbeit gegen das Vergessen,
die Wiederbelebung von im Verschwinden Begriffenen.
Ich bin eher kein utopistischer Autor, also keiner, der kommende
schönere oder schlechtere Welten vorwegnimmt, ich habe eher eine
gewisse melancholische Verbundenheit zu den Dingen, die verloren
gehen und verschwinden, im großen kulturellen Sinn, aber auch
Haltungen, die irgendwie im Schwinden sind. Die Trompete des
Fortschritts brauche ich ja nicht zu sein, der Fortschritt setzt sich
sowieso durch, auch ohne mich. Aber, sozusagen, das Scheiternde oder
die Scheiternden, das Untergehende, Verschwindende noch einmal
literarisch zu benennen, ist eher meine Linie.
Und diesmal, in „Das Erste, was ich sah“, ist das, was benannt
werden muss, keine Nationalität, sondern eine Radiostimme,
ein blinder Nachbar, der dennoch Fahrrad fährt, eine Tafel bel¬
gischer Schokolade — die eigene Kindheit, eine Zeit, in der sich
die Grausamkeit des Alltags in Form einer Tasse heißer Milch
präsentiert: