Geschichten, in denen die Spuren des Krieges, die mittlerweile
großteils verschwunden sind, noch deutlich spürbar sind. Wie
schon im Buch betont Gauß auch im Gespräch erneut sein Erstau¬
nen, als ihm klar wurde, wie nahe am Krieg er aufgewachsen ist.
Aus diesem Grund habe es von Seiten des Verlages jedoch die
Sorge gegeben, das Buch sei das „Kindheitsbuch einer bestimm¬
ten Generation, die sich darin wiederentdecken wolle“, die da¬
rin geschilderten Verhältnisse wären jungen Lesern hingegen zu
fremd, um ihnen wirklich plastisch zu werden. Zum Teil trifft
das natürlich zu: Wenn etwa vom Vierteltelefon die Rede ist, um
dessen Benutzung sich alle Nachbarn streiten, oder eben, noch
deutlicher, von den Kriegsversehrten als Teil des Stadtbildes. Die
Beschreibung solcher Gegen- und Umstände erinnert jedoch nicht
nur an diese allein, richtet sich nicht bloß an Menschen, die das
selbst schon kennen. Sie ermöglicht auch die Erinnerung an eine
unterschiedliche Gegebenheit von jedoch ähnlicher Bedeutung
Maya Rinderer
Der verrückte Elefant
„Du kannst einen Elefanten verrückt machen“, sagt Savta Lea,
meine Großmutter, zu Saba Zoli, meinem Großvater.
Sie sitzt angezogen auf der Bettkante des Krankenhausbetrs,
ihr Gehstock lehnt in Griffweite neben ihr. Wir warten seit fast
zwei Stunden auf den Entlassungsbrief, aber es kann noch länger
dauern und mich wundert das nicht. Die Station macht keinen
besonders koordinierten Eindruck: Überall auf dem Gang stehen
belegte Betten, Geräte und Möbelstücke auf Rollen, gelangweilte
Reinigungskräfte... Das Krankenhaus ist eine ganze Stadt, ich
hätte niemals hierher gefunden. Als ich ungefähr zwölf war, war
ich einmal hier. Mein Auge hatte sich entzündet. Mir war schnell
klar gewesen, dass man das österreichische Gesundheitssystem, das
ich von zu Hause gewohnt war, hiermit nicht vergleichen konnte.
„Hast du erwa schon einmal einen verrückten Elefanten gese¬
hen?“, fragt mich Saba Zoli.
Ich zucke mit den Schultern. „Im Zoo vielleicht“, murmle ich.
Ich bin müde. Im Zimmer riecht es nach Savta Lea, und Savta
Lea riecht nach alter Frau, jedes Jahr mehr. Es ist ein strenger
Geruch, ein trauriger Geruch. Außerdem ist es eng hier drin. Der
gesamte Raum wird vom Krankenhausbett und von dem zu einem
zweiten Bett aufgeklappten Sofa eingenommen. Zwei Stühle an
der Wand, gegenüber der Tür zum Badezimmer. Meine Mutter
hat Savta Lea dieses Einzelzimmer erkämpft, sonst hätte sie auf
dem Gang liegen müssen, aber Savta Lea hatte seit mehreren Tagen
nicht geschlafen und brauchte Ruhe. Meine Mutter kann sehr
überzeugend sein. Die Einzelzimmer sind eigentlich für besondere
Fälle vorgesehen, und Savta Lea wurde nur wegen Schwindel ins
Krankenhaus eingeliefert. Weil sie nicht gegessen hatte. Heute
darf sie wieder nach Hause. Sie sagt, es gehe ihr genau gleich wie
am Tag, als sie herkam.
„Sie schicken dich nach Hause, weil sie das Bett brauchen“, sagt
Saba Zoli und Savta Lea kneift ihre Augen zu, als ob sie in eine
Zitrone gebissen hätte. Nur ein Auge lässt sich wieder öffnen.
Beim anderen kleben die Lider aneinander.
„Was für einen Müll du immer redest“, sagt Savta Lea.
Sie ist mit den Jahren immer weißer geworden. Sie trägt ihr
weißes Oberteil mit dem hellblauen Blumenmuster, ich habe
— also die Erinnerung an einen Teil der eigenen Kindheit, egal
in welcher Zeit.
Wie könnte es anders sein, da ich mich selbst aufgerufen fühle,
mich an die meinige zu erinnern, die zwar ebenfalls eine salzburger,
aber doch eine ganz andere Kindheit war? Aigen statt Aiglhof.
Großeltern statt der Eltern, die missbilligend den nicht gänzlich
geleerten Teller betrachten. Und der Schulweg führt nicht am
Bäcker vorbei, sondern am Friedhof, der seltsamerweise nicht
direkt neben der Kirche liegt und einmal ausgebaut werden musste,
weil der Gräber schon zu viele wurden.
Aber etwas, das sich wahrscheinlich nie ändern wird, ist die
erschreckend gebirgige Hautlandschaft von unachtsam erhitzter
Milch - das bleibt wohl ewig.
Karl-Markus Gauf: Das Erste, was ich sah. Wien: Paul Zsolnay
2013. 112 5. Euro 15,40
sie in den letzten fünf Wochen entweder dieses Oberteil oder
einen geblümten Kittel wie ein Nachthemd tragen schen. Sie hat
aufgehört, sich am Morgen nach dem Aufstehen anzuziehen. Es
braucht einen guten Grund für das weiße Oberteil mit den blauen
Blumen. Aus dem Krankenhaus entlassen zu werden ist einer.
Jedes Mal, wenn ich sie sche, ist sie kleiner und weißer geworden.
Kleiner, weil ihre Knochen langsam zerbröseln, das erklärt sie mir
genau, deshalb habe sie keine Kraft mehr, deshalb könne sie nicht
mehr gut gehen. Sie ist blass, ihre Haut ist weiß, ihr Haar ebenso.
Ihre Haut wirkt fast durchsichtig, sie ist weich und kalt, wenn
ich sie berühre, wenn Savta Lea meine Hand umklammert hält,
spüre ich ihre Handknochen durch die Haut, die sich anfühlt
wie Hefeteig.
Savta Lea streift das gelbe Armband mit ihrem Namen und dem
Zahlencode ab, sie kann ja bald nach Hause gehen.
„Gib mal her“, sagt Saba Zoli.
Savta Lea reicht mir das Plastikarmband und ich gebe es an
Saba Zoli weiter. Er schaut es interessiert an und zieht den weißen
Zettel heraus.
„Das ist wie beim Briefkasten“, sagt er lächelnd. „So, wie da
der Zettel drinsteckt. Lea, da steht dein Name drauf! Und deine
Identitätsnummer. Und schau, sogar ein Code, damit man weiß,
wie viel man für dich bezahlen muss, wie im Supermarkt.“ Er
fängt an zu lachen, das Lachen schüttelt seinen ganzen Körper.
„Wie im Supermarkt! Stellt euch das vor!“
Auch meine Mutter fängt an zu lachen.
„Lacht ruhig über mich“, sagt Savta Lea beleidigt und kneift
ihre Augen wieder zu.
Saba Zoli versucht jetzt, das gelbe Plastikarmband sich selber
überzustreifen, aber er hat Mühe, da seine Hand größer ist als
die von Savta Lea.
„Die gelbe Farbe bedeutet Sturzgefahr“, erklärt meine Mutter.
„Weil Savta schwindlig war. Dann wissen die Leute, dass sie viel¬
leicht hinfällt.“
„Ich hab's geschafft!“, sagt Saba Zoli stolz und streckt seinen Arm
in die Höhe: das gelbe Armband ist jetzt an seinem Handgelenk.
„Wo bleibt denn der Brief so lange?“ frage ich.