„Ich gehe unseren Arzt suchen“, sagt Saba Zoli, steht auf und
verlässt das Zimmer.
„Jetzt läuft er da draußen mit dem gelben Armband rum“, sagt
meine Mutter, sie schüttelt lachend den Kopf und folgt Saba Zoli
hinaus.
„Er ist verrückt, nicht wahr?“, sagt Savta Lea, als wir zwei alleine
im Zimmer sind. „Und mich macht er auch noch verrückt.“
Ich nicke zustimmend. Niemand wagt es, Savta Lea jemals zu
widersprechen.
Ich denke über Verrücktheit nach und daran, dass ich mich
manchmal selber zu den Verrückten zähle, vorallem wegen meiner
Fantasie und dem Schreiben, und weil ich in der Öffentlichkeitzu
singen anfange, weil ich mir einrede, dass mir egal ist, was andere
Leute über mich denken. Ich wünschte, es wäre wirklich so.
In einem Land wie Israel reden die Leute gerne über Verrückt¬
heiten. Weil alles um einen herum verrückt scheint, nicht nur
die Umstände und die Politik und die Kriege und all die sozialen
Probleme, sondern auch die Menschen selbst- wahrscheinlich hat
das ganze Drumherum sie verrückt gemacht. Ich spüre nach fünf
Wochen hier, dass ich zurück möchte, dass ich niemals hier leben
will, dass ich Österreich vermisse. Der Krankenhausboden im
Zimmer, wo Savta Lea die letzten Tage verbracht hat, ist schmutzig.
Der Sommer in Israel ist verrückt. Ich vermisse den Regen. Ich
vermisse es, wie eine Verriickte barfufs durch den Regen zu rennen
und vor Gliick herumzuschreien.
„Was hast du heute gemacht?“ fragt Savta Lea.
„Ich habe mit dem Packen angefangen“, sage ich. „Und noch
Postkarten geschrieben. Typisch ich, am allerletzten TagPostkarten
schreiben.“
Sie schaut mich mit leerem Blick an. „Wann fliegst du zurück?“,
fragt sie.
„Morgen“, sage ich.
„Du sollst deinen Großeltern in Österreich schöne Grüße aus¬
richten“, sagt Savta Lea.
„Gut. Danke.“
„Dass sie gesund sind“, fügt Savta Lea hinzu und fragt dann:
„Wann fliegst du zurück?“
„Morgen“, wiederhole ich geduldig.
Natürlich gibt es Dinge, die ich vermissen werde, wenn ich
Israel verlasse. Ich werde Saba Zoli und Savta Lea vermissen und
mich bemühen, nicht daran zu denken, dass ich sie vielleicht nie
mehr wiedersehe. Wer weiß, wann ich das nächste Mal zu Besuch
komme. Ich werde meine Cousinen und Cousins, meine Tante und
meinen Onkel vermissen... Ich weiß, dass ich Heimweh nach Tel
Aviv haben werde, nach der Hitze und dem Meer und der Kultur
und dem Lärm. Ich liebees, in Tel Aviv Bus zu fahren. Mittlerweile
kenne ich mich bei den Buslinien recht gut aus.
Es gibt hier einiges, das man in Österreich nie erleben würde:
Ander Kreuzung Shenkin-Sinkin in Givatayim taucht regelmäßig
eine Frau mit einem Zehn-Kilogramm-Kübel voll Katzenfutter
auf und schöpft mit einem Joghurtbecher daraus, verteilt um die
ganze Kreuzung herum Häufchen von Katzenfutter, die binnen
Minuten verschwunden sind. Die dürren, kleinen Straßenkatzen
kriechen aus allen Löchern und stürzen sich darauf.
Auf einer israelischen Autobahn kann es vorkommen, dass ein
Auto mit vierzig Stundenkilometern auf der Überholspur fährt,
der Fahrer durch das heruntergekurbelte Fenster mit der Hand
einen Tisch festhält, den er mit der Tischplatte nach unten aufdas
Autodach gelegt hat, nur eine Decke dazwischen. Mein Vater, der
Österreicher, ist schockiert. Meine Mutter, die Israelin, findet das
total akzeptabel. Was verriicktist, hängtauch von der Perspektiveab.
Saba Zoli und meine Mutter kommen mit einem Krankenpfleger
zuriick. Saba Zoli halt die Hand mit dem gelben Armband hoch
und erzählt begeistert: „Eine Krankenschwester hat zu mir gesagt:
‚Mein Herr, Siedürfen hier draußen nichteinfach so herumlaufen!““
Der Krankenpfleger bringt den Entlassungsbrief und erklärt
dessen Inhalt. Sein arabischer Akzent ist so stark, dass ich kaum
ein Wort von dem, was er sagt, verstehe, aber ich mag den Klang.
Ich denkean einen arabisch-israelischen Freund von mir, der einen
freiwilligen Sozialdienst in einem Krankenhaus ableistet und dort
eine jüdische Identität angenommen hat. Er spricht akzentfreies
Hebräisch und bisher ist seine Tarnung nicht aufgeflogen. Er
begründet seine Entscheidung, sich als Jude auszugeben, damit,
dass es bequemer ist.
„Fühlst du dich wie ein Bürger zweiter Klasse in Israel als Ara¬
ber?“, habe ich ihn bei unserem Treffen vor zwei Wochen gefragt.
„Natürlich“, hat er geantwortet.
Savta Lea wird der dünne Schlauch aus der Armbeuge entfernt.
Wir verabschieden uns vom Krankenpfleger.
„Ich sage nicht ‚Auf Wiedersehen‘, sagt Saba Zoli. „Nicht, dass
Sie nicht nettgewesen wären, Herr Krankenpfleger, aber ich würde
sie einfach lieber nicht wiedersehen.“
Der Krankenpfleger lachtund meint, dassesallen Leuten so gehe.
„Nicht-auf-Wiedersehen!“, ruft mein Großvater laut durch die
ganze Station, als wir den Gang entlang gehen. Das Kranken¬
hauspersonal winkt ihm zu und erwidert seine Abschiedsworte.
Vorauszugehen war keine gute Idee von mir, ich biegezweimal in
den falschen Gang ab. Ich hatte niemals den Weg aus der Station
heraus und zu den Liften gefunden.
»Vielleicht solltest du das Auto holen und wir warten auf dich“,
schlägt meine Mutter Saba Zoli vor, als wir im Erdgeschoss aus
dem Lift steigen.
Ich nehme statt ihm Savta Leas Hand. Sie drückt mit einer un¬
glaublichen Kraft zu, es tut sogar weh. Wir gehen langsam, Hand
in Hand, vorbei an den Kunstwerken an den Wänden, vorbei an
den dreisprachigen Schildern. Ständig werden wir von Menschen
überholt, die schneller gehen als wir, religiösen Juden in weißen
Hemden und Kippas, Frauen mit Kopfbedeckungen, Menschen,
die in Rollstühlen geschoben werden, Kindern mit Luftballons...
„Wo ist er hin?“, fragt Savta Lea plötzlich.
„Er ist das Auto holen gegangen“, erkläre ich.
„Weißt du was“, sagt sie leise, als würde sie mir ein Geheimnis
anvertrauen. „Der Mensch kann einen Elefanten verrückt machen.
Das Krankenhaus aber auch. Und vor allem das Alter.“
Maya Rinderer, geb. 1996 in Dornbirn, Österreich, wuchs zwei¬
sprachig auf (Hebräisch und Deutsch) und begann schon früh mit
dem Geschichtenerzählen. Erste Gedichte mit sechs Jahren, ein erstes
Kinderbuch mit acht. Begann mit elf Jahren an einer Geschichte
über ein jüdisches Mädchen während des Zweiten Weltkriegs zu sch¬
reiben, um die Vergangenheit ihrer eigenen Familie zu verarbeiten.
Der Roman „Esther“ wurde 2011 im Bucher Verlag, Hohenems,
veröffentlicht. Im selben Jahr wurde ein Hörspiel von ihr vom ORF
produziert, Mitarbeit an einem Theaterstück, — Jurypreis des Irseer
Pegasus, Preisträgerin des Hildesheimer Lyrik-Wettbewerbs, 5. Platz
des Europäischen Literaturwettbewerbs. Ihr erster Lyrikband „An alle
Variablen“ erschien im Juni 2013. Maya Rinderer arbeitet an einem
neuen Romanprojekt.