Karin Sedlak
“Vamos a Colombia!“
Der „Anschluss“ Österreichs an das Großdeutsche Reich im März
1938 und die Machtübernahme der Nationalsozialisten verän¬
derte das Leben der jüdischen Künstler radikal. Sie wurden mit
Arbeitsverbot belegt, sämtliche Kleinkunstbühnen, in denen viele
Schauspieler ein großes Betätigungsfeld gefunden hatten, mussten
— mit Ausnahme des Bierkabaretts „Simplizissimus“ - ihre Pforten
schließen. Unter anderem war auch die Revuebühne „Femina“
betroffen, fiir die Hugo Wiener (1904 — 1993) bereits seit 1928
als Hausautor tatig gewesen war.
Nach der Schließung des Etablissements war der Leiter Wil¬
helm Gyimes nach New York geflohen, das Ensemble hatte sich
aufgelöst. Der familienbezogene Hugo Wiener, der mit seinen
Eltern und seiner Schwester zusammenlebte und Tag für Tag
die Unterdrückung der neuen Machthaber am eigenen Leib zu
spüren bekam, dachte weniger an Flucht als an Selbstmord, da
er seine Familie nicht im Stich lassen wollte:
Wir sahen keinen anderen Ausweg als Selbstmord. Die Eltern muss¬
ten wir mitnehmen. [Meine Schwester] bat mich, noch eine Nacht
zu überschlafen. Es ist nicht leicht, Vater und Mutter, die man liebt,
zu töten. Und vielleicht gibt es doch noch eine Hilfe. Es gab eine.’
Über Eugen Strehn, einen Regisseur der Wiener Volksoper,
mit dem Wiener bereits einige Male zusammengearbeitet hatte,
wurde ihm ein Brief des Bürgermeisters von Bogotä zugestellt, in
dem er das „Femina“-Ensemble einlud, zusammen mit einigen
anderen Ensembles aus verschiedenen Städten Europas bei der
400-Jahrfeier der Stadt im Sommer 1938 zu gastieren.
Seine Heimat zu verlassen stellte vor allem Künstler wie Wie¬
ner, deren beruflicher Erfolg nicht unwesentlich von der Sprache
abhing, vor ein großes Hindernis. Doch im Moment der sich
bietenden Rettung zählte nur das Überleben. Wie man sich in
der Fremde eine neue Existenz aufbauen würde, stand noch auf
einem völlig anderen Blatt.
Das angebotene Engagement eröffnete zumindest Wiener die
Möglichkeit, Wien zu verlassen, doch er zögerte:
Anstatt mit beiden Händen zuzugreifen, überlegte ich: Südame¬
rika? So weit sollte ich mich von Europa entfernen? Was geschieht
mit meinen Eltern? Mit meiner Schwester? Aber hatte sie nicht selbst
gesagt, dass ich ihnen nur vom Ausland aus helfen könnte?
Er ergriff schließlich doch die Chance, wie er Jahrzehnte später
erklärte:
[Aluf Dringen [Eugen Strehns] hab’ ich mich um dieses Engage¬
ment bemüht. Ich wär’ viel lieber in Wien geblieben. Erstens hatte
ich alte Eltern dort, eine Schwester — überhaupt, ich wollte nicht
weg von Wien. Er hat mir zugeredet und zugeredet ... Mit meiner
Schwester hab’ ich in der Nacht noch gesprochen, die hat gesagt:
„Es bleibt uns nur noch übrig, dass wir uns umbringen! Wenn du
herauskommst, dann hast du vielleicht die Möglichkeit, dass du uns
vielleicht nachkommen lässt!”
Leider sollte sich diese Hoffnung nicht erfüllen, denn in der
ersten Zeit in Südamerika fehlte das dafür nötige Geld, um die
Visa zu beschaffen, später, als Wiener vermögend genug gewesen
wäre, war es zu spät. Sein Vater war bereits in Wien verstorben,
seine Schwester Gisela und seine Mutter waren deportiert worden.
Doch noch war auch Hugo Wiener nicht in Sicherheit. Vor
der Abreise musste er die Reichsfluchtsteuer in der Höhe von
18.000 Reichsmark entrichten — das Geld lich ihm sein enger
Freund und Kollege Fritz Imhoff in Form eines Blankoschecks,
ermöglichte ihm die Ausreise und rettete ihm somit das Leben.
Hugo Wiener musste nun für das anstehende Gastspiel auch ein
neues Ensemble zusammenstellen, zu dem er unter anderem als
Soubrette die junge Cissy Kraner engagierte, die ihre Anfänge in
den Wiener Kleinkunstbühnen gehabt hatte und in den folgenden
Jahren an holländischen Bühnen schr erfolgreich gewesen war.
Kraner hatte noch andere Auslandsangebote:
Da war eine Aussicht nach Griechenland und eine fir eine Tour¬
née in die arabischen Länder und ich hab’ mir gedacht: „Arabische
Länder — da hat man von Verschleppen in den Harem gesprochen
in Wien und so, nicht?“ Da hab’ ich mir gedacht: „Südamerika ist
das beste.“
Neben den Sängern und Darstellern sollte eine Gruppe Tän¬
zerinnen unter der Leitung der Tanzpädagogin Gertrud Boden¬
wieser als „Ballet Viends“ die Truppe verstärken. sollten. Hugo
Wiener war beauftragt, für das Gastspiel eine Revue mit dem
Titel „Vamos a Colombia“ („Wir fahren nach Kolumbien“) zu
schreiben, die dann mit Hilfe eines Dolmetschers ins Spanische
übersetzt und in der Folge von sämtlichen mitwirkenden Ensem¬
blemitgliedern phonetisch auswendig gelernt wurde, da keines die
Sprache beherrschte. Im Boden seines Koffers verpackte Hugo
Wiener noch einige Revuemanuskripte und Sketches aus seiner
Zeit in der „Femina“, die später zum Grundstock seiner Arbeit
in Kolumbien und Venezuela werden sollten.
Mit dem Zug fuhr die Truppe nach Amsterdam, wo sie die S.S.
Costa Rica bestieg, die sie im Juli 1938 in zweiwöchiger Überfahrt
nach Kolumbien brachte. An Bord wurde geprobt und wurden
auch einige Vorstellungen gegeben. Die Truppe traferst nach dem
24, Juli 1938 in Bogotä ein. Bei einer Militärparade stürzte an
diesem Tag ein Kunstflieger auf die Ehrentribiine, auf der auch
für die Gäste aus Österreich Plätze reserviert gewesen wären. 75
Tote und über 100 Verletzte waren die Folge.
Hierauf wurde eine zweiwöchige Staatstrauer ausgerufen, die
Revue „Vamos a Colombia“ konnte erst mit Verzögerung prä¬
sentiert werden. In der Zwischenzeit durften nur Programm¬
punkte ernsten Inhalts gegeben werden, was die Truppe zwang,
ihr Programm völlig umzustellen und zu improvisieren. Dass
die Abende doch zu Lacherfolgen und das Ensemble schlagartig
bekannt und beliebt wurde, ist Cissy Kraner zu verdanken, die als
Conferenciere durch den Abend führte. Sie leitete die Übergänge
der einzelnen Nummern stets mit „Y ahora“ („Und jetzt“) ein und
erregte mit ihrer fehlerhaften Aussprache solche Heiterkeit, dass
sie in der Folge den Spitznamen „Senorita Ahora“ bekam, unter
dem sie sogar in Kritiken aufschien. In der Folge gastierte die
„Revista Vienesa“ mit großem Erfolg in ganz Kolumbien, wobei
das Programm des Öfteren auch abgeändert wurde.
In Cali schrieb die Zeitung „El relator“ vom 21.9.1938:
Das für die Erstaufführung ausgewählte Werk ist die ausgezeich¬
nete Revue in 25 [2] Bildern „Wir fahren nach Kolumbien“, speziell