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Propagandaabteilung der Vaterländischen Front von den Nazis am
11. März 1938 verhaftet und nach Dachau verschleppt worden.
Um seinen Sohn zu retten, soll sich Aichhorn von den Nazis
einspannen haben lassen.’* Sympathien hatte der Gründer der
psychoanalytischen Pädagogik, Pionier der modernen Pädagogik
und der Jugend- und Kinderpsychologie in Wien für die Nazis
sicherlich keine. Dass er trotzdem arbeiten konnte und musste,
ist wohl darauf zurückzuführen, dass ihn Matthias Göring als
Kollegen schätzte und wohl auch brauchte. Dass August Aich¬
horns Nazi-Kollegen nicht nur seine jahrzehntelange Arbeit in
der Jugendfürsorge zerstörten, sondern einen Massenmord in den
Psychiatrien, T4 und die Kindereuthanasie, vorbereiteten, dürfte
Aichhorn und seinem Kreis sicherlich bald bewusst gewesen sein.
Rosa Dworschak, enge Mitarbeiterin August Aichhorns, arbeitete
als Fürsorgerin am „Spiegelgrund“, sie berichtete 1986 in einem
Interview, dass sie und einige andere Fürsorgerinnen die Eltern
vorsichtig gedrängt hätten, ihre Kinder „herauszunehmen“'°. Im
Umfeld Aichhorn gab es Widerstandstätigkeiten: Ella und Kurt
Lingens, versteckten und betreuten gemeinsam mit dem inofh¬
ziellen Mitglied der Gruppe, Karl von Motesiczky, und anderen
viele „U-Boote“ in Wien.'” Auch der langjährige Aichhorn-Patient,
Musiker und Schönberg-Schüler Friedrich Wildgans, Kommu¬
nist und Sohn von Anton Wildgans, versteckte, unterstützt von
anderen Schönberg-SchülerInnen, wie Olga Novarovic, Erwin
Ratz oder Ernst Kriss, Verfolgte'®. Rosa Dworschak komponierte
übrigens neben ihrem Beruf als Erzieherin und nahm Komposi¬
tionsunterricht beim Schönberg-Schüler Paul Pisk. Drei Mitar¬
beiter und Lehranalysanten August Aichhorns, nämlich Wilhelm
Solms-Rödelheim'?, Lambert Bolterauer und Theodor Scharmann,
arbeiteten ab 1942 im Sonderlazarett für Hirnverletzte in der
Pfeilgassse 4-6, zogen ebenfalls ein Widerstands-Netzwerk auf
und erstellten Befunde, „dass Soldaten ein Wehrdienst mit der
Waffe nicht mehr möglich war. Auch dürfte es gelungen sein,
Gegner des NS-Systems an dieser Dienststelle unterzubringen.“”
Widerstand war unter den LehranalysantInnen und PatientInnen
August Aichhorns kein Fremdwort, und 1976 schrieb Wilhelm
Solms-Rödelheim dazu:

Über die Frage der notwendigen Anpassung und des Widerstandes,
über die Bereitschaft zu politischen Aktivitäten kam es zu Diskussi¬
onen. Die Tätigkeit von Mitgliedern und Kandidaten in politischen
Widerstandsgruppen, die Notwendigkeit zur Geheimhaltung und
die Gefährdung der psychoanalytischen Gruppe dadurch, dass ein
Mitglied sich anderwärts einer erheblichen Gefahr aussetzte, brach¬
ten Loyalitätskonflikte mit sich, für die man schwer eine allgemeine
Lösung finden konnte!

Nach 1945 kam in den ersten Jahrzehnten außer Bekenntnissen,
GegnerInnen der Nazis gewesen zu sein, wenig über Widerstands¬
aktionen oder auch nur ein Mitwissen an die Öffentlichkeit.
Nur Ella Lingens berichtete, erstmals ausführlich 1966, von ihrer
Rettungsaktion und ihrer dadurch bedingten Verhaftung und
Deportation nach Auschwitz”. August Aichhorn und die an¬
deren MitarbeiterInnen, darunter Theon Spanudis, haben iiber
die Nazizeit und über ihre Haltung und Verantwortung kein
öffentliches Zeugnis abgelegt. August Aichhorn z.B. handelt in
einem mehrseitigen Beitrag in „Wort und Tat“ vom Juli 1947
zur Geschichte der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“
in ein paar Zeilen die Nazizeit ab (von sich spricht er dabei in
der dritten Person):

In der Zeit des Nationalsozialismus bildete sich um einen von der
Wiener Vereinigung zurückgebliebenen Analytiker ein kleiner Kreis

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von jungen Ärzten und akademischen Psychologen, um das Lebens¬
werk Freuds auch in Wien für die Zeit bereit zu halten, in der freie
Forschungsarbeit wieder möglich sein würde.

Theon Spanudis promovierte 1940 an der Universität Wien,
und bekam sogar ein Stipendium von der Humboldt-Stiftung. Er
arbeitete kurz in der „Privatheilanstalt für Nerven-, Gemüts- und
Geistesschwache in Wien-Inzersdorf“, einst eine der fortschritt¬
lichsten Psychiatrien Österreichs, dann bis 1945 als Assistent am
Institut für Geschichte der Medizin der Universität Wien, wo er
seine „mediko-historischen und kulturgeschichtlichen Studien“
betrieb. 1941 wurde er als Ausbildungskandidat in der „ärztli¬
chen Abteilung der [Wiener] Filiale des ‚Deutschen Instituts für
psychologische Forschung und Psychotherapie‘“ zugelassen. Von
Theon Spanudis gibt es aus dieser Zeit den Vortrag „Die Schwalbe
als Heilmittel in der Antike“. Im 10. Protokoll der Sitzungen von
August Aichhorns Ausbildungsseminar vom 10. März 1943 gibt
es davon eine Zusammenfassung. Da heißt es, dass man in der
Antike dachte, dass „durch den Genuß eines relevanten, analogen
Organs von einem Lebewesen, oder des ganzen Tieres, dem die
mit Verlust bedrohten Eigenschaften in hohem Maße zu eigen
sind, die Gefahr abgewendet werden kann“”*. Schwalben wurden
z.B. gegen Halsschmerzen verzehrt.

Nach der Befreiung

Theon Spanudis wird in den ersten Jahren nach 1945 seine Ausbil¬
dung zum Psychoanalytiker fortsetzen und bei Otto Fleischmann,
dem einzigen namhaften Kollegen August Aichhorns, der aus
dem Exil, aus Budapest, wo er Raoul Wallenberg bei seiner Ret¬
tungsaktion unterstützt hatte, zurückgekehrt ist, beenden. Otto
Fleischmann bleibt bis etwa 1951 in Wien, um gemeinsam mit
August Aichhorn und seinen MitarbeiterInnen, darunter Iheon
Spanudis, die „Wiener Psychoanalytische Gesellschaft“ wieder
ins Leben zu rufen.

Theon Spanudis wurde 1947 volles Mitglied der Gesellschaft
und konnte ab diesem Zeitpunkt als Psychoanalytiker praktizie¬
ren. Er arbeitete ab 1946, wie in der Kurzbiographie angeführt,
am eben gegründeten „Institut für Wissenschaft und Kunst“,
dessen erster Direktor, der Historiker Leo Stern, 1921 eines der
ersten Mitglieder der KPÖ und 1945 Oberst der Roten Armee,
das „geistige Leben Österreichs“ erneuern wollte.

Theon Spanudis war 1946 auch bei der Gründung des Wiener
„Griechischen antifaschistischen Komitees“ als dessen Sekretär
tätig. Das Komitee brachte eine Zeitschrift namens „Die Freie
Stimme“ heraus, deren Chefredakteur Seraphim Bachataridis
war.® Das Komitee half den sich noch in Österreich befindli¬
chen griechischen ZwangsarbeiterInnen und KZ-Überlebenden.
1946 ließ es einen Gedenkstein gegenüber dem Haupttor der
Strafanstalt Stein für die beim Massaker an den Häftlingen am 6.
April 1945 ermordeten Griechen errichten”. Das Komitee galt als
kommunistisch und spielte als linke Auslandsorganisation sicher
auch eine Rolle im von 1946 bis 1948 dauernden Bürgerkrieg
in Griechenland.

Was ist Surrealismus?

Doch weder die Kurzbiographie aus dem „Plan“ noch die an¬
geführten Tätigkeiten erklären, wie und wieso Iheon Spanudis,