Tagblatt“ zu veröffentlichen begonnen hatte. Mit ihrer ganz ei¬
genen heiter-melancholischen Note, deren Tonfall bisweilen an
berühmte neusachliche Zeitgenossen wie Erich Kästner oder Kurt
Tucholsky erinnert, berichtet Lili Grün frisch, freimütig und mit
einer Prise Selbstironie vom täglichen (Über-)Leben und den klei¬
nen und großen Sehnsüchten junger, moderner, selbstbewusster
„Neuer Frauen“ am Ende der Zwanzigerjahre: hin- und hergerissen
zwischen Emanzipation, Selbstbehauptung und dem „Mann mit
starken Armen“? und stets auf der Suche nach der einen, ewigen
Liebe, die immer wieder „dazwischenfunkt“.
Aufgrund einer Tuberkulose-Erkrankung kehrte Lili Grün
Anfang der 1930er Jahre nach Wien zurück. Während sie ver¬
suchte, ihren Lungenspitzenkatarrh in einer Heilstätte loszuwer¬
den, begann sie ihre Erlebnisse rund um die schillernde Berliner
Künstlerboheme in ihrem Kabarett-Roman Herz über Bord zu
verarbeiten. Das Kabarett „Die Brücke“ wird im Roman zum
Kabarett „Jazz“ — benannt nach dem neuen, aus den USA nach
Europa geschwappten, modischen und das Lebensgefühl der
jungen Generation pragenden Musikstil der 1920er Jahre. Da¬
bei mag das eine oder andere Mitglied des „Brücke“-Ensembles
Grün durchaus als Vorbild für ihr fiktionales „Jazz“-Kabarett
gedient haben.
Bereits im Herbst 1933 verließ Lili Grün angesichts der politi¬
schen Rechtsentwicklung in Österreich Wien erneut. Begleitet von
ihrem Lebensgefährten, dem Journalisten und Schriftsteller Ernst
Spitz, ging sie via Prag nach Paris. Da sie ihre Lungenerkrankung
bei ihrem Zwischenaufenthalt in Wien offenbar nur notdürftig
auskuriert hatte und daher ständig kränkelte, konnte sie ihr neues
Theater-Romanprojcekt jedoch nicht wie geplant vorantreiben. In
ihrem 1934 im „Prager Montagsblatt“ veröffentlichten Gedicht
„Schüchterner Flirt mit dem vermummten Herrn“ setzte sie sich
mit dem durch ihre akute Lungenerkrankung einmal mehr prä¬
senten Thema Tod intensiv auseinander: „Ich weiß ja doch, daß es
dich einmal gibt./ Drum, wenn du kommst, komm nicht als Feind!
[...]/ Und vor allen Dingen: komm nicht zu bald. [...]/ Und mit
dem Herzen geh‘ ein wenig freundlich um, [...]/ Es fürchtet dich
und deinen kalten Kuß,/ Und es wird nie verstehn,/ Daß es dich
geben muß.“* Ihr miserabler Gesundheitszustand sowie ihre dra¬
matische finanzielle Notlage zwangen sie schließlich, nach knapp
eineinhalb Jahren wieder in ihre Heimatstadt zurückzukehren.
Da die notleidende Lili Grün einen weiteren dringend notwen¬
digen Sanatoriums-Aufenthalt allein nicht finanzieren konnte,
ermöglichte der Paul Zsolnay Verlag seiner schwer lungenkran¬
ken Autorin im Frühjahr 1935 durch eine von ihm angestoßene
Spendenaktion einen Kuraufenthalt in Meran. Danach konnte
sie endlich ihren Theater-Roman Loni in der Kleinstadt abschlie¬
ßen. Zuvor hatte sie bereits vergeblich versucht, ihre von Zsolnay
abgelehnte Novelle Anni hat Unrecht in der deutschsprachigen
Presse des In- und Auslands zum Abdruck zu bringen. Dagegen
konnte sie weiterhin ihre Gedichte und Geschichten — einige
davon gleich mehrfach - erfolgreich in Wiener Zeitungen und
Magazinen lancieren.
Nach der nationalsozialistischen Besetzung Österreichs im
März 1938 hatte Lili Grün als jüdische Schriftstellerin nahezu
schlagartig keine Möglichkeit mehr zu publizieren. Verarmt und
lungenkrank blieb ihr auch die Emigration ins rettende Ausland
verwehrt. Nach mehreren ‚Delogierungen‘ war sie zuletzt in einem
‚Massenquartier‘ für Juden und Jüdinnen im 1. Wiener Bezirk
untergebracht. Am 27. Mai 1942 wurde Lili Grün aus Wien
deportiert und noch am Tag ihrer Ankunft im weißrussischen
Maly Trostinec am 1. Juni 1942 ermordet.
Seit Juni 2007 mahnt in der Heinestraße 4 im 2. Wiener Gemein¬
debezirk ein „Stein der Erinnerung“ an das grausame Schicksal von
Lili Grün. Im Mai 2009 wurde ein neugestalteter Platz im Bereich
Klanggasse/Castellezgasse, ebenfalls im 2. Wiener Gemeindebezirk,
nach ihr benannt.” Im Herbst 2009 habe ich damit begonnen,
Lili Grüns Romane aus den 1930er Jahren, Herz über Bord und
Loni in der Kleinstadt, nach mehr als 75 Jahren im Berliner AvivA
Verlag neu und ergänzt um ausführliche bio-bibliographische
Informationen zu Lili Grün zu edieren sowie deren unselbstän¬
dig veröffentlichte Gedichte und Kurzgeschichten erstmals in
Buchform gesammelt vorzulegen. Bisher sind erschienen: Herz
über Bord unter dem neuen Titel Alles ist Jazz (2009), Loni in der
Kleinstadt unter dem neuen Titel Zum Theater! (2011) sowie der
Sammelband Mädchenhimmel! Gedichte und Geschichten (2014).
Anke Heimberg, 1967 in Pforzheim geboren, Studium der Germa¬
nistik, Soziologie und Medienwissenschaften in Marburg und Wien;
lebt und arbeitet als freie Literaturwissenschaftlerin und Publizistin
in Berlin. Im Berliner AvivA Verlag hat sie bisher neben den Werken
von Lili Grün auch die Romane „Das weijse Abendkleid“ und „Die
Welt ist blau“ von Victoria Wolff neu herausgegeben. Derzeit arbeitet
sie an einer Biographie zu Lili Grün.
1 Lili Grün: „Rezepte fürs Herz.“ In: Lili Grün: Mädchenhimmel! Gedichte
und Geschichten. Gesammelt, hg., kommentiert und mit einem Nachwort
von Anke Heimberg. Berlin 2014, 12-13, hier 12f.
2 Entsprechende Nachweise bzw. Quellen-Angaben zu den im Folgenden
ausgeführten bio-bibliographischen Angaben finden sich in meinen Nach¬
worten, welche jeweils die von mir neu herausgegebenen Werke Lili Grüns
mit ausführlichen Informationen zu deren Leben und Werk begleiten: Lili
Grün: Alles ist Jazz. Roman. Hg. und mit einem Nachwort von Anke Heim¬
berg. Berlin 2009, 183-214; Lili Grün: Zum Theater! Roman. Hg. und mit
einem Nachwort von Anke Heimberg. Berlin 2011, 184-212; Lili Grün:
Mädchenhimmel! Gedichte und Geschichten. Gesammelt, hg., kommentiert
und mit einem Nachwort von Anke Heimberg. Berlin 2014, 161-183.
3 Hilde Spiel (Hg.): Die zeitgenössische Literatur Österreichs I. Aktualisierte
Ausgabe. Frankfurt/M. 1980 [1976], 29 £. (Kindlers Literaturgeschichte der
Gegenwart: Autoren. Werke. Themen. Tendenzen seit 1945. 5).
4 Petra Budke, Jutta Schulze 1995: Schriftstellerinnen in Berlin 1871 bis
1945. Ein Lexikon zu Leben und Werk. Berlin, 152 f. (Der andere Blick.
Frauenstudien in Wissenschaft & Kunst).
5 Siglinde Bolbecher, Konstantin Kaiser 2000: Lexikon der österreichischen
Exilliteratur. In Zusammenarbeit mit Evelyn Adunka, Nina Jakl, Ulrike Oedl.
Wien, München, 262 ff. — Dieser Eintrag bezog sich vor allem auf Murray
G. Halls kleinen Abschnitt „Lili Grün“ in dessen 1994 publizierter Verlags¬
geschichte „Der Paul Zsolnay Verlag. Von der Gründung bis zur Rückkehr
aus dem Exil“. Tübingen, 182 ff. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte
der deutschen Literatur; 45).
6 Lili Grün: „Die Tränen der Kollegin“. In: Lili Grün: Mädchenhimmel!
Gedichte und Geschichten, a.a.O., 93-95, hier 93.
7 Lili Grün: „Das erfahrene Mädchen“. In: Lili Grün: Mädchenhimmel!
Gedichte und Geschichten, a.a.O., 34.
8 Lili Grün: „Schüchterner Flirt mit dem vermummten Herrn.“ In: Lili
Grün: Mädchenhimmel! Gedichte und Geschichten, a.a.O., 37.
9 Dokumentiert in: Zwischenwelt: Literatur, Widerstand, Exil (Wien), 26.
Jg., Nr. 1/2 (August), 2009, S. 21-23.