Antwort auf einen „Kommentar der Anderen“ des
Literatur- und Kulturwissenschaftlers Wolfgang
Miiller-Funk, der unter dem Titel „Die Schweiz, das
sind wir“ in „Der Standard“ vom 15./16.2.201&,
5. 35, erschien und sich im Internet immer noch
nachlesen läfst. — Leider hat der „Standard“ diese
Antwort (geschrieben am 24.2.2014) nicht ver¬
öffentlichen können.
Ist Ärger ein Impuls zu denken?
Eher nicht.
Das schweizerische Stimmvolk und die Mehrheit
der Kantone haben entschieden, die Zuwanderung
in die Schweiz zu beschränken. Das verletzt die
mit der Europäischen Union vereinbarte Freizü¬
gigkeit. Der Streit darüber wird wahrscheinlich
auf den Kompromiß hinauslaufen, daß man
den Zuzug aus Ländern außerhalb der EU noch
weiter blockiert und die Freizügigkeit innerhalb
der EU bürokratisch zu erschweren sucht.
Keine gute Nachricht, zumal eine Abrechnung
mit Wirkungen und Folgen des europäischen
Kolonialismus im Rahmen der EU nicht erfolgt
ist. Das stabile Staatensystems Europas franst hier
aus, enthält ein Souterrain national-imperialer
Interessen, die jetzt auch noch durch gemeinsame
EU-Friedensmissionen in Afrika wahrgenommen
werden sollen. Es kommt also zu einer Verge¬
meinschaftung des kolonialistischen Erbes. Die
Diskrepanz zur zunehmenden Verweigerung von
Zuflucht für die BewohnerInnen postkolonialer
Länder liegt auf der Hand.
Aber das ist nicht das Problem des feinsinnigen
Essayisten Wolfgang Müller-Funk, der in seinem
„Standard“-Beitrag wenig überraschend über
über den „Nationalismus“ herzieht. „Nationalis¬
mus“, schreibt er, „bedeutet programmatisch wie
kontrafaktisch Freiheit vom Fremden, der in der
Vorstellung von einer homogenen Gesellschaft
als Störenfried und Sündenbock dient, ob es
nun überfüllte Züge oder hohe Mieten oder
sonst etwas ist.“
Das Sprachgeftihl diktierte hier wohl den kleinen
Miferiff, die Wortwiederholung zu vermeiden und
nicht auch von überhöhten Mieten zu schreiben.
Diese behindern in der Tat die Freizügigkeit
und sind eines der aktuell größten Probleme
von Menschen, die sich nicht als Eigentümer
ihrer Behausungen etablieren konnten. Wobei
gerade die Schweiz Vermietern erhebliche ‚Ge¬
staltungsmöglichkeiten‘ einräumt.
Solchen Sorgen der Menschen wurde in der
EU zu wenig Gehör geschenkt. Häme über die
„Modernisierungsverlierer“ ist jedenfalls ange¬
sichts einer „Modernisierung“, die vor allem zu
einer enormen Steigerung der „faux frais“, der
Falschen Kosten, geführt hat, wenig angebracht.
(Bankensanierung statt Investitionen).
Daß mit der EU der Nationalismus verschwinden
werde, war und ist eine trügerische Hoffnung,
hat doch die EU den Nationalismus — aller¬
dings der Intention nach nicht in den krassen
Formen, die Müller-Funk perhorresziert — selbst
angestachelt. Litauische, estnische, lettische Na¬
tionalisten fanden in der EU Rückhalt und die
Perspektive aufeine rasche Aufnahme in die neue
Staatengemeinschaft. Ihnen und den Slowenen,
könnte man sagen, blieb nichts übrig, als sich
vor dem voraussehbaren Chaos, das sich jetzt
in der Ukraine prolongiert, möglichst rasch in
die Eigenstaatlichkeit und in die Arme der EU
zu retten.
In dem Vorgang spiegelt sich der Niedergang
relativ abgeschlossener, hegemonial kontrollierter
Wirtschaftsräume. Mit anderen Worten: Gerade
weil der Nationalstaat nicht mehr als geschlosse¬
ner Wirtschaftsraum lebensfähig ist, lassen sich
heutzutage weltweit leichter Nationalstaaten
konstituieren. Die meisten von ihnen legiti¬
mieren sich durch eine staatstragende Ethnie,
wobei die baltischen Staaten das Problem des
großen russischen Bevölkerungsanteils durch
Ausgrenzung und Zwangsassimilierung zu lösen
suchen. Vielleicht weicht Litauen ein wenig von
dieser Linie ab. Der Grundwiderspruch der neuen
Nationalstaaten ist also der zwischen bevölke¬
rungsmäßiger Autochthonie und internationaler
wirtschaftlicher Abhängigkeit, die nebenbei auch
zum raschen Niedergang traditioneller Industrien
und struktureller Arbeitslosigkeit geführt hat.
Kann man aber den schottischen, baskischen,
katalanischen Nationalisten, die drauf und dran
sind, das Recht auf Eigenstaatlichkeit nicht mehr
nur einzufordern, vorwerfen, die „Freiheit von
Fremden“ und eine „homogene Gesellschaft“
anzustreben? Sind das nicht Eigenschaften, die
man eher faschistischen Ländern zuschreibt, so
z.B. dem austrofaschistischen Österreich, 1933/34¬
1938? Ist Nationalismus gleich Faschismus? Führt
er zum Faschismus, wenn man ihn nur agieren
läßt? Hatten die nationalistischen Widerstands¬
bewegungen, wie z.B. die „O 5“ in Österreich, in
dem von Nazideutschland überrannten Europa
faschistoide Konsequenzen? Oder wären sie nicht
vielmehr als die würdige historische Grundlage
eines vereinten Europa anzusehen?
Ehe „Nationalismus“ zum steinernen Gast
wurde, der ein munter nach neuen Partnern
ausschauendes Europa in seine eigene Unterwelt
zurückzerrt, verstand man darunter das Streben
nach nationaler Unabhängigkeit und gelegent¬
lich auch nach der Wiedergewinnung verlorener
Territorien. Die Carbonari des 19. Jahrhunderts
waren in diesem Sinne „Nationalisten“. Blocher
und Cameron (von Müller-Funk unsinnigerweise
in einem Atemzug genannt) lassen sich so einfach
nicht charakterisieren.
Wenn sich Menschen Sorgen um den Mieter¬
schutz, die Sozialleistungen, ihre Pensionen
machen, müssen sie sich in aller Regel an den
Nationalstaat als den einzigen Garanten ihrer
wohlerworbenen Rechte (ich weiß, gewöhnlich
gelten nur Privilegien als „wohlerworben‘“) adres¬
sieren. Man läßt sie zappeln, und mancher kocht
sein Süppchen auf dieser Unsicherheit und dem
weit verbreiteten Gefühl, eigentlich nicht mehr
gebraucht zu werden, nicht mehr dazuzugehören.
Angesichts dessen sollte man politische Gegner
wie einen H.C. Strache bekämpfen (zumindest ist
das meine Ansicht), aber man sollte sich bewußt
sein, daß in dieser Auseinandersetzung reale
Widersprüche unserer Gesellschaft ausgetragen
werden, Richtungskämpfe, bei denen es nicht
zuletzt um Fragen der Gesinnung zu tun ist.
Und dabei geht es nicht allein um die vielfache
„Überforderung“ von dem „kulturellen Wandel,
der mit unvermeidlicher Migration einhergeht“,
welche Überforderung ernst zu nehmen Müller¬
Funk einmahnt. Das schreitet allzu siegesgewiß
unter dem Banner des Fortschritts einher, so als
hätten die Wohlgesinnten, die Fremdenfeind¬
lichkeit verabscheuen, geradezu die natürliche
Evolution, eine unvermeidliche Entwicklung auf
ihrer Seite und es sei nur mehr eine erzieheri¬
sche Aufgabe zu erfüllen. Irgendwohin wird der
„kulturelle Wandel“ ja führen — wohin er aber
führt, ist längst nicht entschieden.
Nachschrift. Zur Veröffentlichung des obenstehenden
Beitrags an einem Ort, für den er eigentlich nicht
bestimmt war, zwingt mich die derzeit von vielen
Seiten eifrig betriebene Agitation, der zufolge der
Nationalismus geradezu als der mythische Urgrund
allen Übels erscheint. So formuliert etwa Anton
Pelinka („Die ersten Europäer“, in: „Die Presse“,
29. März 2014): „Die logische Zuspitzung der Idee
des Nationalstaates war das nationalsozialistische
Deutschland.“
Wie soll doch Adolf Hitler, nach Hermann Rausch¬
ning, gesagt haben: „Die ‚Nation‘ ist ein poltisches
Hilfsmittel der Demokratie und des Liberalismus.
Wir müssen diesen falschen Begriff wieder auflösen
und ihn durch den politisch noch nicht verbrauchten
der Rasse ersetzen. Nicht die historisch gewordenen
Völker sind die Ordnungsbegriffe der Zukunft ...
sondern der von ihm [dem Nationalstaat] über¬
deckte Rassebegriff.“ („Gespräche mit Hitler“, Wien
1973, 5. 218). Mit einiger Berechtigung darf an
der Authentizität von Rauschnings angeblichen
Gesprächen mit Hitler gezweifelt werden, doch die
Differenzierung zwischen nationalsozialistischem
Rassismus und Nationalismus gibt zu denken, zu¬
mal wenn man Hannah Arendts Überlegungen
in ihrem Hauptwerk „Elemente und Ursprünge
totaler Herrschaft“ berücksichtigt.
Ganz knapp resümiert: Die sicher durch aktuelle
Probleme der Europäischen Union mit motivierte
tendentielle Gleichsetzung von Nationalismus mit
Faschismus und gar Nationalsozialismus verwischt
die Probleme zur Unkenntlichkeit.