Stephan Grigat
Fetisch & Spektakel
Es gilt an einen ebenso scharfsinnigen wie im
besten Sinne radikalen Denker zu erinnern. Der
Mann wurde in Frankreich posthum zum Star,
auf den fast jeder kritische Intellektuelle sich
in irgendeiner Form bezieht, und die pseudo¬
kritischen ganz besonders: Guy Debord, der
die maßgebliche Figur in der Situationistischen
Internationale war, einem Zusammenschluss
von Künstlern und Gesellschaftskritikern, der
von 1957 bis 1972 existierte, maßgeblich zum
Aufruhr im Pariser Mai des Jahres 1968 bei¬
getragen hat und dem über die Jahre mehr als
70 Personen aus zahlreichen Ländern angehört
haben. In Frankreich hat es Debord mittlerweile
zum tresor national, zum staatlich anerkannten
nationalen Kulturerbe gebracht - er konnte sich
dagegen nicht mehr wehren.
Es soll im Folgenden nicht um den ebenso
sympathischen wie intransigenten Eigensinn
Debords gehen, der sich nicht zuletzt in seinem
hemmungslosen Alkoholkonsum ausdrückte,
der keiner Erwähnung wert wäre, hätte er nicht
selbst offenherzig und offensichtlich gerne da¬
rüber geschrieben: „Was ich von den wenigen
Dingen, die ich mochte und auch beherrschte,
am besten beherrschte, war das Trinken.“! Viel¬
mehr soll an die Radikalitat seiner Gesellschafts¬
kritik erinnert werden, deren Grundlegung in
der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie
in jenen wenigen Fällen, bei denen vor einem
breiteren Publikum von den Situationisten die
Rede ist, regelmäßig unter den Tisch fällt: Am
Beginn des 21. Jahrhunderts werden Debord
und seine Mitstreiter im Massenblatt DB mobil
entgegen all ihren Intentionen als Kostverächter
präsentiert, die „das Streben nach materiellem
Überfluss“? verurteilt hätten, während vom
Marxschen Materialismus mit keinem Wort
die Rede ist.
Debords 1967 publiziertes Hauptwerk Die
Gesellschaft des Spektakels ist bis heute einer der
wichtigsten Versuche, Gesellschaftskritik jen¬
seits des marxistischen Dogmatismus und gegen
die postmoderne Beliebigkeit zu betreiben. Der
wohl bekannteste Text der SI Uber das Elend
im Studentenmilieu wurde in Massenauflagen
gedruckt, in zahlreiche Sprachen übersetzt und
hat auch im deutschsprachigen Raum viele Ak¬
tivisten der 60er und 70er Jahre nachhaltig ge¬
prägt. Er erschien 1966 in Straßburg und wurde
mit Geldern der dortigen Universität finanziert,
nachdem Sympathisanten der SI die Wahlen zur
Studierendenvertretung für sich entschieden
hatten. Die Verantwortlichen wurden in der
Folge exmatrikuliert. Doch die Wirkung dieses
Pamphlets, das sich dem Zwang zur auch heu¬
te stets eingeforderten „konstruktiven Kritik“
vollständig verweigerte und den studentischen
Nachwuchspolitikern die Leviten las, war nicht
mehr aufzuhalten.
Die SI formulierte eine radikale Kritik der
Nachkriegsgesellschaften, ohne welche die
viel beschworene „Krise der Universität“ nicht
verständlich sei. Allein Debords Insistieren auf
einem Begriff von gesellschaftlicher Totalitat
brachte ihn in Konflikt mit den akademi¬
schen Sachbearbeitern. Bei den universitaren
Theorieverwaltern machte sich der Vordenker
der SI durch seine konsequente Kritik an der
akademischen Wissensproduktion nachhaltig
unbeliebt. So wie Marx seine leidenschaftliche
Kritik schon früh von der interesselosen Wis¬
senschaft klar abgegrenzt hat, war Debord sich
über die zwangsläufige Unwissenschaftlichkeit
seines beabsichtigten praktischen Unterfan¬
gens im Klaren: „Das Projekt, die Wirtschaft
zu überwinden, von der Geschichte Besitz zu
ergreifen, kann nicht selbst wissenschaftlich sein,
auch wenn es die Wissenschaft der Gesellschaft
kennen — und zu sich zurückführen — muss.“?
Die modernen Sozialwissenschaften betrieben
nur mehr eine „spektakuläre Kritik des Spek¬
takels“ (S. 168) Das akademische Denken des
Spektakels habe sich dadurch zu einer „allge¬
meinen Wissenschaft des falschen Bewusstseins“
(S. 167) herausgebildet.
Es ist nicht nur der sympathische Hang zur
im besten Sinne destruktiven Kritik, der De¬
bord stets von der Mainstream-Linken abhob.
Was ihn schon immer in Opposition zum Mar¬
xismus-Leninismus wie auch zur Sozialdemo¬
kratie setzte, war der Bezug auf die Marxsche
Wert- und Fetischkritik, deren Implikationen
im Mainstream-Marxismus fast hundert Jahre
ignoriert wurden und nur bei dissidenten Kri¬
tikern wie Karl Korsch oder dem jungen Georg
Lukäcs, bei Adorno oder Walter Benjamin Be¬
achtung gefunden haben.‘
Debord hat mit seinem Versuch, die Marxsche
Kritik des Fetischismus und an ihr orientier¬
ter Theorien aufzugreifen, weiterzuentwickeln
und zu einer zeitgemäßen Kritik fetischistischer,
sich spektakulär darstellender Warenherrschaft
zu verdichten, neben der Kritischen Theorie
eine der wichtigsten radikalen Kritiken der
bürgerlichen Gesellschaft im 20. Jahrhundert
geliefert und in Frankreich früh eine fetisch¬
kritische Tradition begründet, die allerdings in
linksakademischen Diskussionen, die nicht nur
in Frankreich stark von Louis Althusser und
Etienne Balibar geprägt waren, kaum Einfluss
gewinnen konnte. Der strukturale Marxismus
von Althusser und seinen Schülern wurde vor
allem im akademischen Marxismus bei weitem
einflussreicher als die kaum mit universitären
Ansprüchen kompatible Kritik Debords.
In den letzten Jahren wurde mitunter ver¬
sucht, die zentralen Unterschiede zwischen dem
althusserianischen Marxismus und der kritischen
Theorie der Situationisten einzuebnen oder für
nebensächlich zu erklären. Jost Müller meint
etwa, Debord sei „seinen marxistischen Zeit¬
genossen, etwa Louis Althusser [...], zweifellos
näher [gestanden], als er einzugestehen bereit
war.“ Als Beleg für diese Nahe kann aber le¬
diglich die beiden eigene Ablehnung des dog¬
matisch gesetzten Basis-Uberbau-Schemas des
Marxismus-Leninismus angeführt werden. Die
zentrale Differenz zwischen Althusser und De¬
bord hingegen wird dadurch beiseite gewischt,
dass Debords Orientierung an der Marxschen
Fetischkritik, die für Althusser bekanntlich keine
Rolle gespielt hat, als „Lukäcs pur“ denunziert
wird. Dagegen soll die Bezugnahme auf Marx’
Wert- und Fetischkritik im Folgenden als Kern
von Debords Argumentation in Erinnerung ge¬
rufen werden.
Eine mittlerweile gängige Form der Erle¬
digung der Debordschen Radikalität ist ihre
Eingemeindung in postmoderne und post¬
strukturalistische Theorien. Thomas Ballhau¬
sen meint, Debords Formulierungen würden
„die offene, ausfransend-rhizomhafte Form“
seiner Gedankengänge unterstreichen.° Dabei
findet sich in Debords Formulierungen gera¬
de eine argumentative Strenge, an die es sich
lohnen würde anzuknüpfen. Ballhausen sieht
bei Debord „den Wunsch, eine Vielzahl von
Zugängen zu diesem Gedankenwerk offen zu
halten“. Dabei unterscheidet sich sein Denken
gerade durch die apodiktische Form, die urtei¬
lenden und parteiischen Formulierungen und
das Festhalten an der einen Wahrheit von dem
üblichen Meinungsbrei und der Interesselosig¬
keit unserer Tage. Dementsprechend findet sich
bei Debord auch keine „mitunter polemisch
überzogene Kritik einer Warenwunderwelt“”,
sondern eine völligangemessene, mitunter cher
verharmlosende Kritik von Staat und Kapital —
angemessen allein schon deswegen, weil, „wer
sich zum Kapital nicht polemisch verhält, sich
unsachlich zu ihm verhält.“®
Debord knüpft mit diesen apodiktischen Ur¬
teilen unmittelbar an den kategorischen Im¬
perativ des jungen Marx an, es müsse darum
gehen, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen
der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes,
ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“?
Die vernichtende Kritik in Die Gesellschaft des
Spektakels steht ganz in der Tradition von Max
Horkheimers Programm, die kritische Theorie
der Gesellschaft stets als „einziges entfaltetes
Existentialurteil“!° zu betreiben. Materialistische
Gesellschaftstheorie ist ihm zufolge nur als Ge¬
sellschaftskritik zu haben. Die Darstellung ge¬
sellschaftlicher Kategorien und Ideologien, ihre
begrifflliche Rekonstruktion, impliziert immer