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innerhalb der letzten vierzig Jahre ein, wo, spezi¬
ell im Rahmen der NS-Forschung, die Bereiche
Sozialgeschichte (70er Jahre), Alltagsgeschichte
(80er Jahre) und Kulturgeschichte (90er Jahre)
konsequenterweise aufeinander treffen. Bajohr
untermauert dies exemplarisch mit dem Begriff

der Täter-Gesellschaft, wie ihn Thomas Kühne
definiert: Holocaust als Gemeinschaftsbildung.
Bajohr zeigt insbesondere jene Probleme auf, die
sich bei einem solchen Gemeinschaftsbegriff
stellen: Ist ein derartiger Homogenität sugge¬
rierender Begriff überhaupt postulierbar, bzw.

welche persönlichen Diskrepanzen nehmen die¬
jenigen in Kauf, die einer solchen Gemeinschaft
angehören wollen? Fragen, deren Beantwortung
in nächster Zeit wohl in einem anderen Rahmen
außerhalb der Eichmann-Forschung zu erwarten
sein werden.

Seit November 2013 kann die neue Daueraus¬
stellung des Wiener Jüdischen Museums be¬
sichtigt und das umfangreiche, reich illustrierte
Begleitbuch gekauft und gelesen werden.

Die Ausstellung und das Buch sind überaus
gelungen und sollten von allen Interessierten
gesehen und gelesen werden. Die vier Wiener
jüdischen Gemeinden der Geschichte und
Gegenwart werden, ausgehend von der Nach¬
kriegszeit, umfassend und kompetent dargestellt.

Konzept und Projektleitung lagen in den Hän¬
den des Chefkurators des Jüdischen Museums,
Werner Hanak-Lettner. Von ihm stammen auch
die allermeisten klugen und kompetenten Ka¬
talogtexte. Mit dem Lektorat waren Barbara
Staudinger (vor 1945) und Vera Ribarich (nach
1945) beauftragt.

Felicitas Heimann-Jelinek, Hanak-Lettners
Vorgängerin als Chefkuratorin, wird auf S. 62
in dem Kapitel über den Sammler und die
Sammlung Max Berger erwähnt, da sie ab 1981
mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der
Sammlung betraut war. Am Ende des Buches
beschreibten Hannah Landsmann das Atelier für
junge BesucherInnen und Gabriele Kohlbauer¬
Fritz das Schaudepot und die Sammlungen des
Jüdischen Museums.

Die Geschichte der Wiener jüdischen Ge¬
meinden ist so reichhaltig und vielseitig, dass
in allen Darstellungen notwendigerweise

Folgen des Februar 1934

Als Folgen des Februar 1934 bzw. der austro¬
faschistischen Machtergreifung nannte ich am
25. Februar im Republikanischen Club Neues
Österreich: die Zerstörung der Arbeiterkultur
(wobei ich darauf hinwies, daß diese Kultur ja
nicht aus der Tradition oder naturwiichsig aus
der Lebenslage entstanden ist, sondern vermége
der tagtäglichen bewußten Anstrengungen vieler
Beteiligter); das Exil als produktive Antwort
auf die Diktatur; die Chamäleonisierung so
mancher Bewohner des Landes.

Was das Exil betrifft, hielt man mir aus dem
Publikum entgegen, dieses sei in Österreich ja
erst wieder in den 1970er Jahren wahrgenom¬
men worden. Als wäre eine Folge geschichtli¬
cher Ereignisse nur dann relevant, wenn sie im
Österreich-Topf Wellen geschlagen! Ich meinte
dazu bloß, man müsse die Sache etwas interna¬
tionaler betrachten.

Für die Chamäleonisierung brachte ich wie
immer Max Stebich als Beispiel (mit besonde¬
rer Hervorhebung des ihm 1961 verlichenen

Betrachter oder Leser etwas vermissen müssen
oder nicht finden werden. Ein Museum muss
immer auf seine Sammlungen, die aus Schen¬
kungen oder Ankäufen, zu bestimmten Themen
oft sehr zufällig, zustande kamen, zurückgreifen.
Am Beispiel zweier Wiener jüdischer Instituti¬
onen möchte ich beschreiben, was ich konkret
meine: Das 1863 gegründete Wiener Bet ha¬
Midrasch wurde von zwei Persönlichkeiten ge¬
prägt, Meir Friedmann und Isaak Hirsch Weiss.
Eine Nachfahrin von Friedmann, Olga Jaul,
die ich noch kannte, überließ dem Museum
wesentliche Dokumente und Gegenstände aus
dessen Nachlass. Deshalb findet sich Friedmann
in der Ausstellung und im Buch präsent, in ei¬
nem Text von Domagoj Akrap, dem Leiter der
Bibliothek des Museums, wogegen der Name
Weiss nirgendwo zu lesen ist. (S. 167f.)

Von Theodor Herzl findet sich neben seinem
Fahrrad und Schreibtisch in der Ausstellung
u.a. ein Porträt in Öl von Wilhelm Wachtel.
Dieser bedeutende Wiener jüdische Maler,
dessen Bilder auch heute noch viel gehandelt
werden, wurde noch an keinem Museum mit
einer Einzelausstellung gewürdigt. Dies wäre ein
schönes zukünftiges Projekt für eine Wechselaus¬
stellung des Wiener Jüdischen Museums. — Auf
S. 99 wird von Hanak-Lettner auch der 1991
gegründete reformierte Betverein Or Chadasch
erwähnt.

— persönliche Notiz

Staatspreises für Jugendliteratur und Hinweis
auf die von ihm in den Donausagen inszenier¬
ten Petrifizierungen) und Karl Pawek. Wieder
einmal stieß ich dabei auf jenen Karl Bieder¬
mann, der im Februar 1934 den Angriff auf den
Karl Marx-Hof leitete und am 8. April 1945
am Floridsdorfer Spitz gehängt wurde, weil er
als Befehlshaber der Militärstreife Groß-Wien
gemeinsam mit Mitverschworenen Wien kampf¬
los an die Rote Armee übergeben wollte. Die
Denunziation ging von Karl Pawek aus, der
im Sonderstandgerichtsverfahren gegen Bie¬
dermann am 6. April auch als Zeuge aussagte.

Walter Hanslik, der NS-Fiihrungsoffizier der
Einheit Biedermanns (Pawek, vormals Schrift¬
leiter der Zeitschrift „Die Pause“, war ihm als
Kanzlist zugeteilt), war einst Biedermanns
Trauzeuge gewesen und meldete pflichtgemäß,
wie er später vor dem Volksgericht beteuerte,
Biedermanns Hochverrat an die zuständigen
Stellen weiter. Am 21.11.1947 wurde er deshalb
zu lebenslanger Haft verurteilt. 1957 wurde er

Ein wichtiger Teilaspekt der Aufarbeitung und
Darstellung der Nachkriegsgeschichte bildet das
Oral History Projekt. Bis Herbst 2013 wurden
41 Personen interviewt, die Namen finden sich
auf S. 108. Die Interviews mit fünf Mitgliedern
der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde (drei
leben heute in Wien und zwei in den USA),
die auf einem Foto aus dem Jahr 1970 auf S.
83 betrachtet werden können, werden in der
Ausstellung eingespielt. Drei weitere Personen
auf dem Foto, Alexander Friedmann, Shmuel
Eitan und Simon Wiesenthal, sind leider schon
verstorben.

Als freischaffende Historikerin frage ich mich
allerdings, ob die Förderung dieses Katalog¬
buches einer etablierten Instution wirklich zu
den Aufgaben des Zukunftsfonds der Republik
Österreich gehört. Kein wissenschaftliches oder
noch so interessantes Buch ist vor Fehlern gefeit.
Zwei habe ich gefunden: Der Zsigo Wertheim
auf S. 207 war Zsigo Wertheimer. Rolf Steiner
auf S. 241 heißt eigentlich Rolf Steininger. — Als
Autorin hätte ich mir selbstverständlich ein Be¬
gleitbuch mit einem Namensindex gewünscht.
Evelyn Adunka

Unsere Stadt! Jüdisches Wien bis heute. Hg. von
Werner Hanak-Lettner und Danielle Spera im
Auftrag des Jüdischen Museums Wien. 248 S.
Euro 29,90

amnestiert.

Pawek kam, angeblich aufgrund eines strafmil¬
dernd wirkenden psychiatrischen Gutachtens,
mit drei Jahren Haft davon, die er auch absitzen
mußte. In Haft hatte er sich schon seit dem 16.
Juli 1945 befunden.

Jetzt aber gibt es sogar einen Wikipedia-Bei¬
trag über Pawek: Er hat nach seiner Freilassung
gleich wieder unter Pseudonym an der Zeit¬
schrift „Austria International“ mitgearbeitet und
leitete dann die angesehene Zeitschrift „mag¬
num“ in Frankfurt am Main, wobei er auch
alte Mitstreiter aus NS-Zeiten zur Mitarbeit
heranzog. Die „Deutsche Gesellschaft für Pho¬
tographie“ chrte ihn nach seinem Tod. (Geboren
am 27.8.1906 in Wien, war er am 24.9.1983
in St. Peter bei Freiburg verstorben.) - K.K.

An der von Sibylle Summer moderierten Podi¬
umsdiskussion über die Folgen des Februar 1934
nahmen außerdem Neda Bei (Juristin) und Ger¬
hard Senft (Wirtschafishistoriker) teil.

Mai 2014 63