Wieder ist es der Historikerin und Übersetzerin
Anna Maria Grünfelder gelungen, mit akribi¬
scher Quellenarbeit eine der großen historio¬
graphischen Lücken in der zeitgeschichtlichen
Beziehung zwischen Österreich und den südöst¬
lichen Nachbarn zu verkleinern. So publizierte
die geborene Kärntnerin, die in Zagreb arbeitet,
2010 ein Buch über Zivil- und Zwangsarbeiter¬
Innen aus Jugoslawien in der „Ostmark“.' In
ihrem neuen Buch hat die Autorin in unzähligen
Dokumenten Lebenszeichen von unbekannten
und bekannten jüdischen Flüchtlingen gesam¬
melt und zu einem neuen Bild der Hoffnung
und Verzweiflung zusammengefügt. Die Stra¬
tegien des Überlebens und des Widerstandes
der Vertriebenen, deren Handlungsspielraum
durch die vorherige Ausraubung in der Heimat
bereits stark eingeschränkt war, prallten nach
dem deutschen Überfall auf Jugoslawien im Ap¬
ril 1941 auf die Raub- und Verfolgungsstrate¬
gien der Invasoren und der neuen heimischen
Machthaber. Am Ende stehen unvollständige
Listen des Todes und der Ungewissheit über die
weiteren Schicksale der wenigen Überlebenden.
Mit gutem Grund beginnt Grünfelder ihre
Analyse der anfänglich konzilianten jugosla¬
wischen Flüchtlingspolitik mit dem Jahr 1933.
In diesem Jahr der Machtübergabe an Hitler
flüchteten bereits 4.400 Jiidinnen und Juden’,
die vielfach auch politisch verfolgt wurden, aus
dem Deutschen Reich nach Jugoslawien. Einer
von ihnen war der Schriftsteller Manes Sperber,
der, so fand es die Autorin in den Banschaftsak¬
ten, von der Staatssicherheit observiert wurde.
Als Mitglied der KPD war er im März 1933 bei
einer Straßenrazzia der SA in Berlin verhaftet,
als österreichischer Staatsbürger aber wieder frei¬
gelassen worden und hatte sich nach Zagreb
abgesetzt. Österreichische jüdische Flüchtlinge,
die der Hölle der Märztage 1938 entkamen,
überschritten die Grenze noch mit gültigen ös¬
terreichischen Reisepässen. Nach der repressiven
Wende der Flüchtlingspolitik, die die Autorin
mit Ende 1938 ortet, finden sich in den Akten
vermehrt Hinweise auf „unliebsame Szenen“
an der Grenze, wenn sich Flüchtlinge gegen die
Abschiebung ins Reich wehrten. Fahndungslis¬
ten nach „illegalen“ Immigranten tauchen auf,
eine Festnahme des Menschenschmugglers Josef
Schleich wurde dokumentiert’ und Vorwürfe
von „Scheinehen“ wurden erhoben. Der ge¬
bürtige Wiener Julius Präger, dessen Eltern in
Jugoslawien geboren waren, der aber den öster¬
reichischen Militärdienst absolviert hatte, wurde
am 10. November 1938 bei Spielfeld über die
Grenze getrieben. Das österreichische Ehepaar
Dr. Richard und Katharina Finsterbusch sowie
Dr. Justin Finsterbusch, die mit einem Sicht¬
vermerk nach Jugoslawien gekommen waren
und von der Polizei observiert wurden, äußerten
gegenüber Hotelangestellten im Kurort Rogaska
Slatina, sie würden lieber Selbstmord begehen,
als ins Deutsche Reich zurückzukehren. Dem
Médlinger Anwalt und Schriftsteller Albert
Drach, dem Bekannte in Split bei der Beschaf¬
fung von Transitvisa behilflich waren, gelang
es, Visum und Schiffspapiere für Marseille zu
bekommen. Er setzte der Vertreibungs- und
Immigrationspolitik ein literarisches Denkmal.‘
Im zweiten Teil des Buches fokussiert die
Autorin auf die Verfolgung der ausländischen
Jüdinnen und Juden im „Unabhängigen Staat
Kroatien“ (USK), wobei sie wesentliche Do¬
kumente zur verbrecherischen „Arbeitstei¬
lung“ zwischen dem UstaSa-Regime und den
deutschen Behörden sichten konnte, und geht
auf das deutsch-italienische Ringen um die
Flüchtlinge in der von Italien besetzten Zone
ein. Die ausländischen Jüdinnen und Juden im
Land gerieten von Anfang an in das Visier der
Gesetzgeber im USK, aber auch der deutschen
Verfolgungsbehörden, belegt Grünfelder. Im
ersten Jahr, als die UstaSa und ihre Handlanger
weitgehend unbehelligt von den prasenten deut¬
schen Dienststellen zwei Drittel der im Land
anwesenden Jiidinnen und Juden ermordeten,
wurden internierte, von Agenten beobachtete
jüdische AusländerInnen, die durch ihr Ver¬
halten erkennen ließen, dass sie Ausreisepläne
hatten und Vermögenswerte mit auf die Flucht
nehmen konnten, oder jene, die der Zusam¬
menarbeit mit fremden Geheimdiensten ver¬
dächtigt wurden, an die Gestapo Graz, die
Zentrale für Südosteuropa, ausgeliefert und/
oder in Konzentrationslager im Reich depor¬
tiert. So wurde die Wiener Ärztin Dr. Grete
Fenema im Juni 1941 wegen einer anonymen
Anzeige, sie plane ein Attentat auf Hitler, in
Zagreb verhaftet und ins polizeiliche Gefange¬
nenhaus Graz eingeliefert. Mangels Beweisen
durfte sie wieder zurückkehren und flüchtete
in das italienisch kontrollierte Küstenland. Die
1885 in Krems geborene Irma Fröhlich wurde
im Juli 1941 wegen „Devisenverbrechen“ nach
Graz ausgeliefert. Als sie zurückkam, folgerte die
jugoslawische Geheimpolizei (OZNA) wegen
dieser „ungewöhnlichen Privilegierung einer Jü¬
din durch die Gestapo“, dass Irma Fröhlich der
Zusammenarbeit mit der Gestapo zugestimmt
haben müsse. 1944 gelang es ihr, in das von den
Partisanen kontrollierte Territorium zu flüchten,
wo sie im gleichen Jahr an Typhus starb. Wie
schnell sich ein Versuch des Wegkommens in
das tödliche Gegenteil verkehren konnte, be¬
legt das Anreise-Ansuchen des Wieners Julius
Teitler für eine Gruppe von österreichischen
und deutschen Jüdinnen und Juden im Som¬
mer 1941. Im Dezember 1941 wurden die in
Breko Internierten von der Ustasa als „Vergel¬
tung für Partisanenüberfälle“ ermordet. Dies
ist der einzige dokumentierte Massenmord von
ausländischen jüdischen Flüchtlingen außerhalb
der Konzentrationslager der Ustasa.
Mit der KZ-Errichtung hatte das Usta$a¬
Regime schon vier Tage nach der USK-Staats¬
griindung begonnen. In stillgelegten Fabriken
wie Danica („Morgenstern“), wo Serben, Juden,
Kommunisten, Adventisten und zufällige Opfer
von Straßenrazzien der UstaSa-Milizen interniert
waren, befanden sich auch Alyah-Flüchtlinge,
u.a. aus Wien, Graz, Berlin und Leipzig. Zum
Symbol der Vernichtung und der ambivalenten
Erinnerungskultur’ wurde Jasenovac, ein La¬
gerkomplex, der unter anderem das Todeslager
HI und das Frauen- und Kinderlager V Stara
Gradiska, eine ehemalige k.u.k. Festungsanlage,
umfasste. Einer der im Herbst 1941 in Jasenovac
vermerkten 269 Häftlinge, die als Schneider
arbeiteten, war der 1916 in Wien geborene
Sigmund Wenkart. Im Sommer 1942 begann
die zweite Phase des Judenmordes.° Nach unda¬
tierten Notizen der Sektion IV B 4 des RSHA
bestand eine Vereinbarung zwischen dem Leiter
der „Judenabteilung“ der Direktion für öffent¬
liche Ordnung und Sicherheit (RAVSIGUR),
Eugen ‚Dido‘ Kvaternik, mit dem damaligen
Leiter der Sektion IV B 4c (Kroatien) des RSHA
in Berlin, Wilhelm Beis(s), darüber, dass die
ausländischen jüdischen Flüchtlinge im USK
„den Deutschen gehörten“. Ab Juli 1942 über¬
nahm der aus Ostpreußen stammende Franz
Abromeit, RSHA-,Experte fiir Judenfragen“,
die Initiative zur Vernichtungspolitik, die UstaSe
sekundierten. 1942 wurden aus dem USK, laut
Statistikamt des RSHA, 4.972 einheimische und
auslandische Jiidinnen und Juden in NS-Kon¬
zentrationslager in Polen deportiert. Im letzten
Deportationszug nach Nordosten wurden am
3. Mai 1943 1.700 Lagerinsassen aus Jasenovac,
300 Personen aus Verstecken, Altersheimen und
Krankenhausern sowie die meisten Mitarbeiter
der Zagreber Kultusgemeinde nach Auschwitz
deportiert. Noch an der Rampe erschossen wur¬
den der Oberrabbiner der Zagreber Kultusge¬
meinde, Dr. Miroslav Salom Freiberger, und der
Präses der Gemeinde, Dr. Hugo Kohn, weil sie
gegen die brutale Behandlung der Deportierten
protestiert hatten.
Das Buch ist auch ein Erinnerungsmal für sie
und die unglaubliche Solidarität und Versor¬
gungsleistung der kroatischen Jüdischen Kul¬
tusgemeinde, die ohne staatliche Hilfe seit 1933
— auf Basis einer Mitglieder-“Gemeindesteuer“
— zehntausende Flüchtlinge versorgt hatte. Zu¬
schüsse leisteten auch ausländische jüdische
Hilfsorganisationen wie JOINT, HICEM, die
jüdische Loge B’nai B’rith, die jugoslawische
Sektion der Internationalen Zionistischen
Frauenorganisation WIZO, die ein Büro in
Zagreb unterhielt, und die 1935 gegründete