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Sabine Soukup Riesenrad im Prater (1931) So ziehst Du auch mich in die Tiefe, Du mein Blick. Mich wundert plötzlich, warum ich hoch hinaus wollte, an die Spitze der Technik, einen Steinwurf vom neuen Stadion entfernt. Alles im Blick. Ich mag bewundern, was vor mir liegt. Ich mag die Stadt schen, als wäre sie meine Miniatur, meine Kunst. Aber ich sche nichts mehr mit dem dritten Auge, dicht an den schwindligen Bauch geschmiegt, in dem es flattert und bebt. Meine Kamera zwingt mich zum Fenster, das ich 6ffnen muss. Ich erinnere mich — plötzlich... und weiche zurück. Noch vor meiner Zeit geschah etwas, weswegen ich heute vielleicht sogar hier bin. Ich wollte es nicht und kam trotzdem. Eine Zeitungsnotiz, nur ein paar Zeilen. So nah dem brisanten Alltag meiner Zeit, so lebendig. Ob sie noch lebt? Sie, die vor 33 Jahren einfach nur weiterleben wollte. Das wünschte sie den Menschen da unten und dem Gott (Gott?!) da oben zu sagen. Aber die Ohren waren taub. Da sollten sie schen. Vom höchsten aller Waggons ließ sie ein Seil aus dem Fenster hängen, kletterte hinaus und hielt sich so verzweifelt wie am Leben fest. Sie wollte nicht sterben, sie wollte nicht mehr sterben. Sie und ihr Mann, beide arbeitslos, arm, in großer Not. Es war ein Protest gegen dieses Leben, ausgerechnet hier, dem Himmel so nah. Erst am Boden kletterte sie zurück in den Waggon. Unversehrt, unverändert. Bald war sie vergessen. Nicht einmal das schreit zum Himmel. Eva Schmidt Edith Suschitzky, Riesenrad im Prater, Wien, 1931. Foto: National Galleries of Scotland Auch heute nicht. Auch ich nicht. Ich drücke ab, wenn das Bild perfekt ist. Aber der lange Schatten fällt auch über mich. Sabine Soukup, 1975 in Wien geboren. Studien der Ökologie und Ökonomie. Seit 2010 Deutschtrainerin und Coach in der Erwachsenenbildung, Korrektorat und Lektorat. Freiberufliche Schriftstellerin. Was soll ich tun? Die Situation in Österreich wird immer schwieriger. Vor kurzem haben sie mich sogar verhaftet, nur wegen der Fotos von einer Demonstration, an der ich teilgenommen habe, wegen der Bilder aus dem „Kuckuck“ und aus der „Bühne“, wegen einer Lenin-Biographie... Zum Glück haben sie mich wieder freigelassen, aber die Angst sitzt mir im Nacken. Ich steh ja ziemlich links und habe auch Kontakte zu englischen Genossen und zur Komintern. Seit wann? Seit 1925, als ich in London einen Kurs bei Maria Montessori besucht habe. Die Schwester von Alexander ist ja Montessori-Lehrerin. Überhaupt sind die Tudor-Harts tolle Leute. Alexander hat Medizin studiert, er war mir gleich sympathisch. Heute ist er Arzt und Kommunist. Ob er wegen mir nach Wien gekommen ist? Er macht gerade einen Fortbildungskurs und wir haben uns natürlich schon getroffen. Ich möchte mich irgendwie engagieren. Im Montessori-Kinderhaus habe ich gelernt, dass auch verwahrloste Kinder gefördert werden können, wenn sie als Individuen betrachtet werden. Die Kinder erhalten persönliche Sicherheit, gelernt wird mit allen Sinnen, was mir sehr gefällt. Die Reformpädagogik fasziniert mich, vielleicht weil Wolfund ich in einem schr liberalen Klima aufgewachsen sind, weil wir eine gute Beziehung zu unseren Eltern hatten. Mein Vater ist nicht nur Buchhändler, nein, wir hatten eine 24 ZWISCHENWELT tolle Bibliothek zu Hause und die vielen Bücher, die er auch verlegte, hat er uns natürlich schon gezeigt, bevor sie auf den Markt gekommen sind. Mein Herz gehört den Menschen, die von der Wirtschaftskrise am schlimmsten betroffen sind, obwohl es mir selber etwas besser geht. Wie schwer muss es sein kein Einkommen zu haben. Besonders ältere Leute haben kaum eine Chance, wieder beschäftigt zu werden. Ich finde allerdings, sie sollten nicht aufgeben, weshalb ich auch Versammlungen und andere Aktivitäten fotografiere. Ich bewundere, wie sich die Leute aus dem Gemeindebau im Sommer in der Lobau vergnügen und im Winter auf den Schiern den Wienerwald genießen, obwohl sie kaum Geld haben. Kann ich mit diesen Reportagen und Bildern überleben? Eigentlich nicht. Sollte ich Porträts reicher Leute machen, die in Zeiten wie diesen noch immer in den Cafes sitzen und Zeitung lesen, oder Schauspieler und andere prominente Leute fotografieren, wie es meine Kollegen machen? Irgendwie liegt mir das nicht so sehr. Ich kann mich eher mit den Anliegen des Roten Wien identifizieren, in denen es um unsere Bildung und um die Gesundheit für alle geht. Andererseits machen mir die Hakenkreuze in den Fenstern der Zinshäuser große Angst. Ich fühle mich in dieser Stadt nicht sicher, sollte versuchen meine eigene Haut zu retten. Aber wohin? Ist