illegal über die Grenze zu kommen. Trotz unseres chronischen
Geldmangels nahm Steffel die beiden sofort per Taxi zum jü¬
dischen Hilfskomitee HIAS, das ihnen irgendwelche Personal¬
ausweise gab, um eine sofortige Festnahme zu vermeiden. Nach
wenigen Tagen gelang es den Leuten von der HIAS, Erich und
Kurt Aufenthaltsbewilligungen zu beschaffen; man stellte ihnen
wöchentlich eine Summe zur Verfügung, gegen die Onkel Erwins
Unterstützung geradezu fürstlich anmutete. Die beiden Jungen
teilten ein Zimmer in irgendeiner Wanzenburg und es war ganz
selbstverständlich, dass sie bei uns zu Mittag aßen. Kurz darauf
erschienen Dr. Steinitz Tochter Lisbeth und Kurts Freundin Resa,
die unter ähnlichen Umständen nach Prag gekommen waren und
nun buchstäblich Hunger leiden mussten. So saßen nun oft bis
zu sieben Personen um unseren Mittagstisch, und Mutti konnte
nicht länger eine dreigängige Mahlzeit auftragen. Wir ernährten
uns hauptsächlich von Bohnensuppe und Kartoffelschmarrn.
Während wir diese bescheidene Kost verzehrten, zitterten wir
ständig, dass Onkel Erwin erscheinen und die Tafelrunde se¬
hen könne. Schließlich war er wirklich nicht verpflichtet, unsere
Freunde mitzuernähren.
Bald hatten wir jedoch ernstere Sorgen. Die in der Tschecho¬
slowakei lebenden Sudetendeutschen stellten immer neue For¬
derungen. Deutschland rasselte mit dem Säbel, Frankreich und
England zogen ihre Reservisten ein, und die Tschechen, sich auf ihr
Verteidigungsbündnis mit dem Westen verlassend, mobilisierten
gleichfalls. Prag bereitete sich auf Krieg vor. Erich und Kurt halfen
uns, die Fenster mit schwarzem Papier zu verkleben, jede Haus¬
partei musste in der Nacht zwei Stunden lang als Feuerwache vor
dem Eingangstor stehen. Um meine Eltern zu schonen, erfüllte ich
diese Pflicht. Was für ein zivilisiertes Land diese Tschechoslowakei
doch war! Kein Mensch hatte Angst, ein 17-jähriges Mädchen
Nacht für Nacht allein auf der Straße stehen zu lassen.
Wir erwarteten stündlich den Kriegsausbruch, einerseits froh da¬
rüber, dass Hitler endlich das Handwerk gelegt werde, andererseits
voller Bangnis darüber, wie sich unser Schicksal in Kriegszeiten
gestalte. Die Idee, dass Frankreich und England sich nicht an ihre
vertraglichen Verpflichtungen halten könnten, kam uns nicht
in den Sinn. Als Kanzler Chamberlain Mitte September nach
München fuhr und Hitler das Sudetenland quasi auf silbernem
Tablett überreichte, brach unser Glauben an alle Ideale völlig
zusammen. Besonders Steffel litt fast physisch unter dem Verrat.
Unsere tschechischen Nachbarn schämten sich nicht, auf der Straße
zu weinen. Plötzlich konnte man auf öffentlichen Plätzen weder
Deutsch noch Englisch oder Französisch reden, ohne angepöbelt
zu werden. Ich verstehe nur zu gut, warum 1945 so viele Tsche¬
chen dem russischen Regime statt den alliierten Demokratien den
Vorzug gaben. Diese Tage beeinflussen mein politisches Denken
bis heute. Ein kleiner Staat kann und darf sich nicht einmal auf
seine besten Freunde verlassen.
Nun waren wir nicht mehr die einzigen Flüchtlinge in der
Familie. Mutters Bruder Manfred musste mit Frau und Kind
Karlsbad Hals über Kopf verlassen und kam mit völlig zerschla¬
genem Gesicht in Prag an. Die arischen Brüder seiner Frau hatten
das Paar gewaltsam aus der eleganten Wohnung gejagt. Andere
Verwandte hatten ihre Villa im Sudetenland einfach abgeschlossen,
waren nach Prag geflohen und wohnten nun mehr schlecht als
recht in kleinen Pensionen.
Während der Septemberkrise hatte der Postverkehr zwischen
Wien und Prag nicht funktioniert. Als endlich ein Brief von
Tante Traud eintraf, begann Steftel, ihn uns laut vorzulesen. Nach
wenigen Sätzen ließ er leichenblass das Papier zu Boden sinken.
Mutti hob es auf und las mit Entsetzen weiter. Ihre Schwägerin
Irma hatte sich von dem Nervenzusammenbruch, den sie nach
dem Straßenreiben erlitten hatte, nicht wieder erholt und wollte
nichts vom Auswandern und davon, ein neues Leben zu beginnen,
hören; überall seien die Menschen schlecht. Zwei Tage nach dem
Münchner Abkommen erhängte sie sich. Traud war gezwungen
worden, die Wohnung in Grinzing zu verlassen, wohnte nun
bei ihrem Bruder Arthur und stand dem neuen Witwer bei, so
gut sie konnte.
Kaum hatten wir die entsetzliche Nachricht begriffen, traf eine
neue Schreckensbotschaft ein. Arthur war beim Novemberpogrom
verhaftet worden und befand sich nun im Konzentrationslager
Buchenwald.
Steffel reagierte wie ein Besessener, Gott sei Dank. Er zweifelte
keinen Moment daran, dass Hitler das Miinchener Abkommen
brechen werde und in absehbarer Zeit deutsche Truppen in Prag
einmarschieren wiirden. Verzweifelt wandte er sich an Erika Mann,
die er flüchtig kannte, und Mitte Dezember erhielten wir durch
die Hilfe des Thomas-Mann-Komitees die Einreisebewilligung
nach England. Wir wären lieber nach Paris gegangen, aber das
Schicksal meinte es gut mit uns.
Noch heute schäme ich mich, dass ich in dieser Situation mei¬
nen Eltern das Leben erschwerte. Da Erich keine Chance hatte,
ein englisches Visum zu bekommen, wollte ich unbedingt bei
ihm in Prag bleiben. Es gab schwere Kämpfe, bevor mich meine
Eltern überreden konnten, mit ihnen Prag zu verlassen. Hätte ich
meinen Willen durchgesetzt, wäre ich vermutlich, so wie Erich,
in den Gaskammern von Auschwitz gelandet.
Ende Dezember bekamen wir endlich die nötigen Reisepapiere.
Ich erinnere mich nicht mehr, warum Steffel als erster ohne uns
abflog. Wir hätten ihm am nächsten Tag folgen sollen. Mutti und
ich waren pünktlich zur vorgeschriebenen Zeit am Flugplatz,
mussten aber zunächst stundenlang warten. Da keiner von uns je
geflogen war, machte uns das Treiben anfänglich Spaß. Schließlich
teilte man uns mit, dass Nebel in London die Landung völlig
unmöglich mache und wir erst am nächsten Tag fliegen könnten.
Aber der berühmte englische Nebel ließ nicht mit sich spaßen.
Mehrere Tage lang saßen wir am Flugplatz herum und mussten
nach stundenlangem Warten in die kalte leere Wohnung zurück¬
kehren. Mutti, die während der schrecklichen Monate in Wien
nie den Mut verloren hatte, war nun plötzlich überzeugt, dass
wir Steffel nie wiedersähen.
Am 31. Dezember war es endlich so weit. Ich weiß nicht mehr,
ob wir wegen irgendwelcher Devisenvorschriften kein Geld mit¬
nehmen durften oder ob wir alles ausgegeben hatten oder ob Mutti
zu stolz gewesen war, Onkel Erwin um mehr zu bitten. Jedenfalls
wechselte man die letzten Geldscheine, die wir hatten, in zwölf
englische Schillinge um. Wir hatten keine Idee, was man dafür
kaufen konnte. Damals gab es im Flugzeug nichts zu essen, der
Flug von Prag nach London dauerte viele Stunden, und es war
bereits Nachmittag, als wir schr, sehr hungrig in London landeten.
Entnommen aus: Gerda Hoffer, Judith Hübner: Zwei Wege ein Ziel.
Zwei Frauenschicksale zwischen Wien und Jerusalem. Hg. von Evelyn
Adunka und Konstantin Kaiser. Wien: Verlag der Theodor Kramer
Gesellschaft 2011, S. 36-44.