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Anna Krommer
Die Sudetenkrise

Prag September 1938

Als ich im September 1938 von der Deutschen Jugendstrandko¬
lonie in Grado nach Prag zurückkehrte, fand ich eine veränderte
politische Stimmung vor. Schon bei meiner Ankunft zu Hause
lief mir meine Schwester eine Gasmaske schwenkend entgegen.
„Der Krieg ist ausgebrochen!“, riefsie mir zu. Wir wohnten damals
in einem Vorort Prags, fern vom Gedränge der Innenstadt. Zwar
brach der zweite Weltkrieg erst ein Jahr später aus, doch war man
schon vorbereitet. Denn als die Hitze des Spätsommers in den
Straßen Prags glühte, verbreitete sich öfters das Gerücht, der Krieg
sei ausgebrochen. Kampfbereit wollte sich das tschechische Volk
einem deutschen Angriff stellen. Man rechnete auf den Beistand
der Sowjetunion, deren Propagandafılm ‚Wir schwören‘ in den
Kinos gespielt wurde.

Breits am 19. und am 20. Mai 1938 hatte Hitler seine Truppen
an der Grenze des Sudetengebiets aufmarschieren lassen. Daraufhin
ordnete auch der Präsident der CSR, Eduard Bene$, die Mobil¬
machungan, undam 21. Mai besetzten tschechische Truppen die
Festungsbauten in den sudetendeutschen Grenzgebieten.

Aber die Tapferkeit der kleinen, wenn auch gut ausgerüsteten
Nation konnte die Katastrophe nicht aufhalten. Trotz seiner Ver¬
bündeten stand Bene: allein.

Reibungen, die zwischen den zirka 700.000 Tschechen und
den über drei Millionen Deutschen in den Sudeten seit 1918
aufgekommen waren, steigerten sich im Verlauf von 20 Jahren
zur Sudetenkrise. In einer Rede Hitlers auf dem Nürnberger Par¬
teitag am 12. September wurden die Tschechen denunziert: „Auf
keinen Fall bin ich gewillt, im Herzen Deutschlands ein zweites
Palästina aufkommen zu lassen...“

Die Unruhen, die der hasserfüllten Ansprache im Sudetengebiet
folgten, besiegelten den Abbruch der Verhandlungen zwischen
SPD und CSR-Regierung. Henleins Schlachtruf — ,,Wir wollen
heim ins Reich“ — förderte die Abtrennung ans Deutsche Reich.

Der lange zuvor von General von Witzleben, Admiral Canaris
und Franz Halder ausgetüftelte Geheimplan „Fall Grün“ war
somit in Kraft getreten. Während in mehreren Verhandlungen ein
vom britischen Premierminister Neville Chamberlain begutach¬
tetes Verzichtsabkommen in Gang gesetzt wurde, steigerte sich in
Prag die Angst vor einem Kriegsausbruch. Viele Stadtbewohner
flüchteten aufs Land.

Doch am Morgen des 21. September — nachdem die Tschecho¬
slowakei der von Großbritannien und Frankreich vorgeschlagenen
Abtrennung des Sudetengebiets unter starkem Druck zugestimmt
hatte — erklarte der hoffnungsvolle Chamberlain vor seinem Abflug
nach Bad Godesberg: „Die perfekte Lösung des tschechoslowa¬
kischen Konflikts ist eine wesentliche Einleitung zum besseren
Verhaltnis zwischen dem englischen und dem deutschen Volk.“

Gleichzeitig bewirkte Präsident Benes die Mobilisierung der
gesamten tschechischen Streitkräfte. Hitler bestand auf dem
Godesberg-Memorandum. Schon am 1. Oktober wollte er das
Sudetengebiet besetzen. Folglich wurde das Münchner Abkommen
am 30. September 1938 von Hitler, Chamberlain, Daladier und
Mussolini unterschrieben. Am 5. Oktober trat Bene$ zurück und
ging bald darauf ins Exil nach London. Schon am 2. Oktober

wurden wir aus meinem Geburtsort in der nunmehr autonomen

Slowakei von Hlinka-Gardisten ausgewiesen. Auch in Prag fanden
wir keine Sicherheit. Denn Hitlers Aggression bedrohte weiterhin
die noch freien Gebiete des tschechischen Staates.

Die Folgen der politischen Weiterentwicklung, die sich im
Privatleben meiner Eltern katastrophal auswirkten, begründeten
zum zweiten Mal unseren Kampf ums Überleben. Als sudeten¬
deutscher Antinazi, dessen Freund und Förderer der ehemalige
Präsident Bene$ war, sah sich mein Vater gezwungen, die bequeme
Wohnung am Prager Stadtrand aufzugeben. Den Neujahrstag
des verhängnisvollen Jahres 1939 feierten wir noch in unserer
Wohnung. Hugo Rokyta, ein guter Freund meines Vaters und
ebenfalls ein gefährdeter Sudetendeutscher, war an jenem Tag
bei uns zu Gast. Trotz böser Vorahnungen erfreuten wir uns an
Pfannkuchen und Wein...

Anna Krommer (links) mit Schwester Barbara nach der
Ankunft in England, Sommer 1939. Archiv der TKG

August 2014. 53