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nach 1933 politisch und rassistisch Verfolgte vor
dem NS-Regime dorthin emigrierten, vor allem
technische und wissenschaftliche Fachkräfte. Die
Autoren ermutigen mit ihrer Arbeit zu weiteren
Recherchen.

So viele Emigranten, so viele verschiedene
Schicksale. Manche vorher etablierte Familien
flüchteten nicht ganz ins Ungewisse. Ein deut¬
scher Sozialdemokrat und Kommunalpolitiker,
Ernst Reuter, war im Exil in Ankara beruflich
erfolgreich und wurde nach 1945 der erste Re¬
gierende Bürgermeister von Berlin-West. Der
Grazer Professor für Volkswirtschaft Josef Dob¬
retsberger, bereits international bekannt, war bis
1938 Rektor der Grazer Universität, verlor aus
politischen Gründen seinen Posten, emigrierte
nach Kairo, später nach Istanbul, wo er sich im
österreichischen Exil-Widerstand engagierte. Er
kehrte 1946 an die Universität Graz zurück, wo
er „der Reaktion“ nicht willkommen war. (S.
522-542). Jüdische Flüchtlinge überlebten in
Zentralasien und in Sibirien, wo sich sowjeti¬
sche Internierungslager für Zivilisten befanden.
1934 wurde in Birobidschan, im fernen Osten
Russlands, eine Autonome Jüdische Sowjetre¬
publik gegründet, und ein „Reisebericht“ von
Lili Körber, einer jüdischen Sozialistin, aus
dem Jahr 1935 schildert aus säkularer Sicht die
dortige Situation. Körber flüchtete von Wien
1938 über Frankreich in die USA. (S. 83ff.) In
die Sowjetunion waren bereits seit 1934 viele
Sozialdemokraten und Kommunisten geflo¬
hen, es wurde später auch ein Transitland für
Menschen, die in die USA gelangten, etwa für
den Mathematiker Kurt Gödel aus dem Wiener
Kreis (protestantischen Glaubens, wurde er aber
der „jüdischen Mathematik“ zugerechnet und
verfolgt).

Die Verhältnisse in den Zufluchtsländern wa¬
ren nicht statisch, sondern in jener Zeit umstürz¬
lerisch — wie heute auch oft. Alisa Douer schreibt
iiber die Kunsthistorikerin Hilde Zaloscer, die
aus Bosnien-Herzegowina stammte, in Wien
ihr Studium abschloss, aber keine Arbeit fand.
Antisemitismus war schon im Austrofaschismus
nicht nur virulent, sondern effektiv. Zaloscer

emigrierte nach Agypten und publizierte in Ale¬
xandria ihre Forschungen zur Kunstgeschichte.
Die Stadt galt als „Fenster zu Europa“. Nach
Kriegsbeginn ging Zaloscer eine Scheinehe mit
einem Agypter ein, um nicht ,,feindliche Aus¬
länderin“ zu sein. Sie kehrte 1947 nach Wien
zurück, hatte beruflich keine Chancen und ging
1950 als Professorin an die Universität nach
Alexandria. Die politischen Umstände - u.a. der
Konflikt Ägyptens mit Israel — machten es für
die Jüdin schwer, im Land zu bleiben, sie wohn¬
te von 1968 bis zu ihrem Tod 1999 in Wien
und erfuhr späte Anerkennung als Fachfrau für
Koptische Kunst. Zitate aus ihrem Buch „Eine
Heimkehr gibt es nicht. Ein österreichisches
curriculum vitae“ von 1988 ergänzen Douers
Bild dieses bewegten Lebens.

Einige Titel der Beiträge werden hier ange¬
führt, um die Buntheit der Schicksale, die in
Wirklichkeit aus Bedrohung, Improvisation,
Entbehrung bestand, zu vermitteln. Heimo
Halbrainer schreibt über den Wiener Franz
Schacherl, „Ein Architekt der Moderne in An¬
gola“ (S. 293f.), oder über Alice Penkala, „eine
Wiener Journalistin in Tanger“. Klaus Voigt
schreibt über „Leo Rosenberg - Auf dem Weg
von Italien nach Palästina in Libyen gelandet“.
Gabriele Anderl widmet dem Wiener Ehepaar
Manfred und Luise Eva Papo den Aufsatz „Als
Rabbiner und als Religionslehrerin in Südrho¬
desien“; Luises Familie stammte aus Mähren,
Manfreds sephardische Familie war aus Sarajewo
nach Wien gekommen. Sie flohen 1939 über
Prag und London nach Rhodesien, in ein ihnen
völlig unbekanntes Land; sie kehrten 1964 nach
Wien zurück, aus gesundheitlichen Gründen,
„aber äußerst ungern“ (S. 321). Die beiden
Papo gehören zu den Personen, die in diesem
Buch die k.u.k. Vielfalt der österreichischen
jüdischen und nichtjüdischen Verfolgten vor
Augen führen.

Es gab in Wien eine türkisch-israelitische
Gemeinde, deren Mitglied Harry Turkof ein
ganz besonderes Schicksal hat; unvorstellbar
der bürokratische Aufwand, der schließlich zur

Ausweisung und Rettung des jungen Mannes

Der Welt muss von den Schandtaten dieser Barba¬
ren erzählt werden, sodass sie von den kommen¬
den Jahrhunderten und Generationen verabscheut
werden können.

Jankiel Wierniks „Ein Jahr in Treblinka“ ist
gut 70 Jahre nach seiner Entstehung nun zum
ersten Mal in deutscher Sprache erschienen.
Die HerausgeberInnen haben das bei bahoe
books erschienene Buch Josef S. gewidmet,
dem jungen Antifaschisten, der im Jänner die¬
ses Jahres die Verhältnisse zum Tanzen zwang
und gegen in der Wiener Hofburg tanzende
deutschnationale Burschenschafter demonst¬
rierte. Am 22. Juli wurde er nicht rechtskräftig
wegen Landfriedensbruch in Rädelsführerschaft

[], versuchter schwerer Körperverletzung und
schwerer Sachbeschädigung zu zwölf Monaten
teilbedingter Haft verurteilt. Gegen dieses Urteil
legte er Berufung ein. Die Beweisführung der
Ermittler vor dem Prozess wirkte hanebüchen,
die Anschuldigungen scheinen an den Haaren
herbeigezogen — als wollte man wie in einem
Pyramidenspiel die enststandene Liicke durch
Teilnahme weiterer Paragraphen des Strafge¬
setzbuches schließen. Der Richter bemühte
sich in seiner Urteilsbegründung, die Lücken
der Beweiskette mit den schönen Worten „lo¬
gisch“ oder „natürlich“ zu füllen. Ein wahrer
Idealist und Wahrnehmungsspezialist: „Dass
keiner Sie konkret sieht, ist nur logisch. Aus der
Nicht-Wahrnehmung [anderer ZeugInnen] ist

führte. Gabriele Anderl liefert in ihrem Aufsatz
„Abgeschoben und gerettet“ ein drehbuchreifes
Skript fiir einen Film (S. 543-556).

Es ware noch so vieles Interessantes und Wich¬
tiges in diesem Buch herauszustreichen; etwa die
detailreiche Untersuchung von Susanne Heim
„Zwischen Notlösung und Utopie — Projek¬
te zur Kollektivansiedlung von Jüdinnen und
Juden“ (S. 57-74), betreffend Konzepte zum
Flüchtlingsproblem 1938. Etwa 80 Prozent der
Flüchtlinge aus dem deutschen Machtbereich
waren Juden. Verschiedene Siedlungsprojekte
werden vorgestellt und ergänzt durch sieben
authentische Berichte von Exilanten, von China
über Rhodesien bis Britisch Nord-Borneo. Kein
Projekt wurde verwirklicht.

Ein sehr reicher wissenschaftlicher Apparat,
ein riesiges Personenregister und die vielen in¬
teressanten Biographien machen die Lektüre zu
einer wichtigen Lektion über ein bisher wenig
beachtetes Kapitel aus der NS-Zeit.

Abschließend noch der Hinweis auf einen
besonderen Mann. Günther Windhagers Artikel
über diesen im Jahr 1900 in Lemberg, Galizien,
„als Leopold Weiss geborenen Muslim jüdischer
Herkunft“ (gest. 1992 in Spanien) erscheint wie
die Utopie einer idealen Versöhnung verschie¬
dener Welten, gerade indem die Hauptperson
nicht nur journalistisch, sondern auch diploma¬
tisch und politisch — vor allem in Pakistan nach
der Gründung dieses Staates - gewirkt hat. Man
hätte gut und gerne von Globalisierung sprechen
können, wenn es das Wort schon gegeben hätte.
(S. 433-474).

Diese Besprechung entstand im Juni 2014,
als die UNO den „Weltllüchtlingstag“ beging:
gegenwärüg sind erwa 50 Millionen Menschen
betroffen — etwa so viele wie im Zweiten Welt¬
krieg. Flucht hat nicht nur mit der Beraubung
von Orten und Beziehungen zu tun, sondern vor
allem mit Entrechtung. Damals und heute auch.
Hedwig Wingler

Margit Franz, Heimo Halbrainer (Hg.): Going
East — Going South. Österreichisches Exil in Asien
und Afrika. Graz: CLIO 2014. 700 S. Euro 39,¬

nicht zu schließen, dass die Wahrnehmung des
Belastungszeugen nicht korrekt war.“ Wir hoffen
auf das baldige Erscheinen eines Lehrbuchs zu
den Grundlagen der Wahrnehmungslehre. Nach
dem Tierschützer- und Schlepperprozess kann
man kaum anders, als den dritten österreichi¬
schen Justizskandal innerhalb kurzer Zeit zu
konstatieren. Antifaschismus wird diskreditiert,
während Korporierte, die, wenn sie nicht ge¬
rade in der Hofburg tanzen, sich fröhlich die
Wangen aufschlitzen und in Bierkellern das
„Gaudeamus igitur“ schmettern, weiterhin
munter den Holocaust infrage stellen. „Wenn
heute neonazistische und faschistische Parteien
und Gruppierungen immer noch exisiteren“,
schreiben die HerausgeberInnen des Buches

August 2014. 93