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was hier verabschiedet worden ist, durch etwas Wirkungsvolleres
ersetzt wurde.

Ich stelle mir manchmal vor, dass in zwanzig oder dreißig Jahren
ein Vertreter einer nachgeborenen Generation an mich herantreten
und mir die Bilder und Berichte aus den Auffanglagern in Ungarn,
Italien oder Griechenland anklagend entgegenstrecken könnte. Es
ist eine Vorstellung, die mir Angst macht. Die weitaus schlimmere
Vorstellung ist allerdings, dass das vielleicht nie jemand tun wird.

Maya Rinderer

Verdrehte Welt

Ich hatte beschlossen, an diesem Tag in Tel Aviv in der Wohnung
zu bleiben und Zeit mit meiner Großmutter zu verbringen, wäh¬
rend mein Großvater beim Bridge-Spielen war. Die Wand mit
den gerahmten Bildern im Wohnzimmer hatte sich seit meinem
letzten Besuch vor einem Jahr verändert: neue Bilder waren dazu¬
gekommen und die älteren schienen vergilbter zu sein, als ich sie
in Erinnerung hatte. Meine Großmutter kam mit ihrer Gehhilfe
auf mich zu: zwei alte weiße Füße in Birkenstocks, zwei Rädchen
und zwei Aluminiumstöcke, über die aufgeschnittene Tennisbälle
gestülpt waren, die leise auf dem frischgefegten Boden schleiften.

„Sind diese Fotos von Gals Hochzeit?“, fragte ich und zeigte
auf einen großen Bilderrahmen, in dem mehrere Fotos von der
Hochzeit meiner Cousine angeordnet waren. Ein Foto in der Mitte
zeigte das faltige lächelnde Gesicht meiner Großmutter, ihr weißes
Haar kurzgeschnitten, eine Sonnenbrille mit dünnem Goldrah¬
men, roter Lippenstift, ein weißer Kragen und eine Perlenkette.
Ich zeigte auf das Bild und sagte: „Das ist ein schr schönes Bild
von dir, savta. Du sichst so glücklich aus.“

„Ich war schr glücklich“, sagte sie langsam. „Es war eine Hoch¬
zeit. Auf deiner Hochzeit werde ich auch glücklich sein.“

Ich zwang mich zu einem Lächeln, nickte und floh in das Zim¬
mer, in dem ich schlief, schloss die Tür hinter mir, warf mich
aufs Bett und brach in Tränen aus. Ich weinte zuerst leise, dann
schluchzte ich laut auf, erschrak von dem Geräusch und verstumm¬
te. Es war nicht der eine Satz, der mich zum Weinen gebracht
hatte. Es war die Reihe an ähnlichen Sätzen, seitdem ich nach
Israel gekommen war, und auch die Sätze von früheren Besuchen
oder die Sätze, die ich am Telefon zu hören bekam. Fast nie fragte
mich Savta Lea, was meine Pläne für die Zukunft seien oder wie
die Matura gelaufen sei oder wovon mein nächstes Buch handeln
sollte. Meistens fragte sie, ob ich einen Freund hätte, warum denn
nicht, ob ich keinen suche, warum ich keinen suche, ob ich keinen
wolle, warum ich keinen wolle, ob ich nicht bald heiraten wolle,
was denn das mit dem Alter zu tun habe, was denn das mit einem
Studium zu tun habe...

Manchmal ärgerten mich diese Aussagen so schr, dass ich Savta
Lea am liebsten angeschrien hätte: „Kümmere dich darum, dass
die Homo-Ehe legalisiert wird, dann stelle ich dir meine Freun¬
din vor und lade dich zu unserer Hochzeit ein!“ Aber so etwas
zu sagen, hätte ich mich natürlich nie getraut, vor allem, weil
alle anderen Verwandten auf meinen Witz hin, „wenn Savta Lea
das wüsste, würde sie einen Herzinfarkt bekommen“, nur ernst
nickten. Meine Cousine Gal versuchte mir zu erklären, dass ich

Anja Braunwieser, geb. 1982 in Salzburg, studierte Philosophie an
der Universität Salzburg. 2002 wechselte sie nach Wien, um dort ihr
Studium fortzusetzen. 2007 begann sie das Studium der Fotografie
bei Gabriele Rothemann an der Universität für angewandte Kunst.
Seit 2011 studiert Anja Braunwieser Sprachkunst an der Universität
für angewandte Kunst in Wien. In ZW Nr. 1/2014 erschienen der
Essay „Transit in Doha“ sowie „Dazwischen sind die leeren Seiten“
(Rezension zu Josef Mautner: Agenda Menschenrechte.) In ZW Nr.
2-3/2014 sind Gedichte von ihr erschienen.

das nicht ernst nehmen dürfe, weil das die primitive östliche
Mentalität sei, in der die Frau nur als Ehefrau und Mutter ein
erfülltes Leben haben könne, dass Savta Lea deshalb so sehr an
Hochzeiten glaubte und alle ihre Enkelkinder verheiratet schen
wollte. Weil eine Hochzeit sie gerettet hat.

In ihrer syrischen Familie mit Mutter, Vater und vier Geschwis¬
tern zu leben, war für Lea Abud nicht einfach gewesen. Sie wusste,
dass sie heiraten musste, um dem engen Zimmer, in dem die ganze
Familie schlief, zu entfliehen, um ihrer misshandelnden Mutter
zu entfliehen. Sie wollte eine neue, eigene Familie, die besser sein
würde als die, aus der sie kam.

Eines Tages ging Lea mit ihrer unverheirateten Tante Adina
eine Straße entlang, in der sie ein Schild des Büros eines Kupplers
sah, und überredete ihre Tante, sie solle das doch ausprobieren.
Tante Adina traute sich allerdings nicht, sich alleine verkuppeln
zu lassen, deshalb meldete auch Lea sich an. Das erste Date, das
Lea hatte, gefiel ihr nicht, aber der zweite junge Mann, den sie
kennenlernte, schien ganz nett zu sein. Er redete das ganze Date
über kein Wort, erzählte mir meine Großmutter. Er war ja aus
Europa gekommen und sie wollte gar nicht so genau wissen, was
ihm dort passiert war.

Ein paar Tage später fuhr Lea in den Moshav, wo der junge
Mann namens Zvi (das war der Name, den Zoltan, also Saba Zoli,
bei seiner Aliya ins Land Israel bekommen hatte) als Landwirt
arbeitete. Savta Lea berichtete mir ausführlich von diesem Tag.
Sie kam an, fragte nach Zvi und wurde zu einem Stall geführt,
wo er gerade eine Kuh molk. Sie sagte, sie sei gekommen, um zu
überprüfen, wie er lebe und ob er ein ehrlicher Mann sei.

Wieder ein paar Tage später überraschte Zoli Lea mit einem
Besuch. Savta Lea erzählte mir, wie heftig es geregnet hatte. Zoli
brachte einen Korb voll frischem Gemüse. Leas Eltern waren
davon so beeindruckt, dass sie Lea drängten, diesen Mann schnell
zu heiraten. Lea sagte also zu ihm, dass sie entweder jetzt oder
niemals heiraten würden. Sie heirateten genau zwei Wochen,
nachdem sie sich kennengelernt hatten.

Diese Geschichte kam immer wieder auf, immer wieder wurde
sie erzählt oder nur nebenbei erwähnt. Meine Großeltern und
ich saßen im Wohnzimmer und Savta Lea sprach darüber, wie sie
ihre verwitwete Haushälterin verkuppelt hatte, was am Schluss
nicht geklappt habe, aber sie hätte schon oft Leute erfolgreich
verkuppelt. Bevor ich sie nach genaueren Geschichten fragen
konnte, lachte Saba Zoli und sagte, dass das nicht stimme.

„Weißt du, dass wir beide uns durch einen Kuppler kennengelernt

November 2014 15