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fühlte mich daran erinnert, wie ich als Kind in der Sonntagsmesse
saß und den Leib Christi nicht essen wollte, während er über
mir hing. Gegen Ende der Vorlesung erklärte der Professor, dass
der Sinn des Rituals darin bestanden habe, dem getöteten Opfer
Respekt zu erweisen. Es sei ein Versuch gewesen, die Erfahrung
der Schuld, die mit dem Töten des Tieres einhergegangen war,
zu bewältigen.

Meiner Gewohnheit zufolge, Erwartungen möglichst gering zu
halten, stelle ich keine sonderlich hohen moralischen Ansprüche an
mich selbst. Ich beschränke mich auf den Versuch, möglichst wenig
Schaden zu verursachen. Ich trage Kleidung aus Billiglohnländern,
und eine Zeit lang habe ich meine Bücher bei Amazon bestellt.
Demnach bin ich vermutlich sogar in der Schadensbegrenzung
gescheitert. Ich habe aufgehört bei Amazon zu bestellen. Versand¬
kosten zahle ich auch bei dem neuen Anbieter keine. Wovon die
Mitarbeiter im Gratisversand entlohnt werden, weiß ich nicht.
Die Bekleidungsindustrie ist für mich auch ziemlich undurch¬
sichtig. Ab und an finde ich ein Kleid, dessen Etikett nahelegt,
dass es unter vertretbaren Arbeitsbedingungen genäht wurde und
trotzdem ganz hübsch aussieht. Woher die Baumwolle stammt,
aus dem das Kleid gemacht wurde, lässt sich allerdings nur selten
feststellen. Offen gestanden habe ich keine Ahnung, wo und ob
in Europa Baumwolle angebaut wird und ich glaube eigentlich
nicht, dass das überhaupt eine Rolle spielt, zumal die Treibhaus¬
plantagen von Almeria deutlich machen, dass auch europäischer
Boden durch Sklavenarbeit bewirtschaftet wird. Darum kaufe ich
kein Obst und Gemüse aus Spanien. Das stellt allerdings nicht
wirklich eine Herausforderung dar, weil mir eine überaus reiche
Produktpalette dargeboten wird, die es mir ermöglicht Lebens¬
mittel nach Sorte, Anbaugebiet, Verarbeitungstechnik, Gütesiegel
und Preis auszuwählen. Alles ist vorteilhaft ausgeleuchtet, im
Hintergrund läuft beschwingte Musik und ich frage mich, ob
jeder, der zu diesem Festmahl beigetragen hat auch tatsächlich
eingeladen ist, daran teilzunehmen.

Ich habe nie einen Bären getötet. Schuldlos fühle ich mich den¬
noch nicht. Tatsächlich gibt es zwar nur schr wenig, was man
mir persönlich ankreiden kann, aber vielleicht gibt es auch eine
abstrakte Form von Schuld, die schwerer wiegt, von der ich mich
allerdings wenig belastet fühle. Ich versuche mir einen senegalesi¬
schen Fischer vorzustellen, der keine Verwendung mehr für seine
Piroge hat, weil die Europäische Union sämtliche Fischereirech¬
te für seine früheren Fanggebiete gekauft hat. Ich versuche mir
weiters vorzustellen, wie er beschließt, seinem Boot einen neuen
Zweck zu geben, und damit nach Spanien aufbricht. Ich nehme
jetzt mal an, er schafft es dorthin, landet in keinem Auffanglager,
sondern im Plastikmeer von Almeria und findet dort Arbeit. Er
denkt, dass er ein Riesenglück gehabt hat. Dieses Glück sicht so
aus, dass er für 30 Euro am Tag im Pestizidregen steht, damit es
im Gourmet-Spar bei mir ums Eck ganzjährig Erdbeeren gibt, die
ich nicht kaufen will. Ich weiß eigentlich nicht, warum ich erst
versuchen muss mir dieses Szenario vorzustellen, obwohl ich mir
eigentlich sicher bin, dass es so einen Fischer gibt, wahrscheinlich
sogar schr viele. Ich treffe sie nur nicht, weil zwischen mir und
ihnen eine Dublin-2-Verordnung, Nato-Draht und hoffnungslose
Asylverfahren stehen.

Womit ich meinen Lebensstandard verdient habe, weiß ich nicht.

Offenbar gibt es ein Geburtsrecht auf Wohlstand und ich habe

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keine Scheu es zu beanspruchen, obwohl mir klar ist, dass dieser
Wohlstand auf der Benachteiligung anderer beruht. Ich weigere
mich nach wie vor dagegen Verantwortung dafür zu übernehmen,
dass Adam und Eva vom falschen Baum gegessen haben, aber
vielleicht ist der Gedanke einer Erbsünde nicht ganz so blödsinnig,
wie er sich für mich als Kind angehört hat. Ich habe die Strukturen,
in denen ich lebe, nicht geschaffen, ich weiß allerdings, dass sie
in vielerlei Hinsicht nicht gerecht sind, dennoch profitiere ich
von ihnen. Irgendeine Form Schuld nehme ich dabei wohl auf
mich und ich denke nicht, dass ich sie loswerde, indem ich sie
beispielsweise den Agrarsubventionen und der Asylpolitik der
Europäischen Union zuschiebe und so tue, als hätte ich mit der
wiederum rein gar nichts tun.

Es fällt mir nicht sonderlich schwer diese Schuld einzugeste¬
hen. Der Großteil davon lässt sich tatsächlich auf Strukturen
zurückführen, deren Entwicklung eingesetzt hat, bevor es mich
überhaupt gab. Sie sind ein Erbe, das ich antrete und zugegeben,
ziemlich widerstandslos weiter trage. Wahrscheinlich fällt mir das
Eingeständnis zu dieser Schuld auch deshalb so leicht, weil sie
mir niemand zum Vorwurf macht. Ich frage mich manchmal, ob
ich mich anders verhielte, wenn ich wüsste, dass ich irgendwann
einmal Rechenschaft würde ablegen müssen und welche Instanz
das von mir fordern könnte. Idealerweise wäre das wahrscheinlich
das, was man unter dem eigenen Gewissen versteht. Das Problem
mit meinem Gewissen ist, dass es sich als ein außerordentlich
entgegenkommender Verhandlungspartner erweist. Wann immer
ich etwas tue, von dem ich denke, dass es nicht in Ordnung ist,
weiß ich dem sofort etwas entgegenzusetzen, das ich umso besser
gemacht habe. Wahrscheinlich ist dieser Mechanismus schon in
dem Begriff „Rechenschaft“ angelegt. Manchmal bin ich nicht
sicher, ob es nicht einem Bestechungsversuch ähnelt oder zumin¬
dest dem, was man unter „sich außergerichtlich einigen“ versteht.

Ich habe nie an einen Gott geglaubt und denke nicht, dass ich
das einmal tun werde. Ich erinnere mich nicht, je entschieden zu
haben Atheistin zu sein, es ist einfach passiert und ich komme
damit auch ganz gut zurecht. Die Heilsversprechen, die ich hören
möchte, bekomme ich vom Arzt und bisher wurden sie immer
eingehalten. Dank muss ich dafür niemandem entrichten, nur
einen herabgesetzten Selbstversicherungsbeitrag. Der ist nicht
sonderlich hoch. Ich mag klar bezifferte Werte. Es hilft mir sie zu
ermessen. Was das Preis-Leistungsverhältnis angeht, gestaltet sich
das bei Gott außerordentlich günstig, zumal ich als Studierende
nicht einmal kirchenbeitragspflichtig bin und es immerhin ein
ewiges Leben im Himmelreich ist, das mir hier in Aussicht gestellt
wird. Ich fürchte, das mit der Religion wird dennoch nichts und
ich frage mich mitunter, was stattdessen kommt.

Als ich meiner Lehrerin damals vorschlug auf die verhungern¬
den Kinder zu sprechen zu kommen und darauf, warum Gott
das zulässt, habe ich das ziemlich gehässig getan. Was ich dabei
nicht bedacht habe, war, dass sich diese Frage, wenn ich Gott
daraus streiche, vielleicht an mich richten muss. Ich denke nicht,
dass ich persönlich gegen den Welthunger etwas Nennenswertes
ausrichten kann, aber wahrscheinlich könnte ich mir zumindest
bei Dingen von überschaubarerem Ausmaß mehr Mühe geben.
Dass die Annahme eines Gottes als eine übergeordnete moralische
Instanz weitgehend an Bedeutung verloren hat, empfinde ich als
begrüßenswert, gleichzeitig habe ich jedoch Bedenken, ob das,