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Mann aus der Gewerkschaft der kaufmännischen Angestellten
geleitet. Dieser, Manfred Ackermann, wählte zur Grundlage sei¬
nes Kurses nichts Geringeres als die Rede des Marc Anton aus
Shakespeares „Julius Cäsar“ und verhalf mir dadurch drei Jahre
später zu einem unverdienten Erfolg bei der Matura: Just diese
Rede hatte ich aus dem Englischen zu übersetzen, und da ich
mich noch gut an die Übersetzung von Schlegel erinnerte, tat
ich es schwungvoll:

„Mitbürger! Freunde! Römer! Hört mich an ...“

Aus alledem geht hervor, daß ich nicht zu der „proletarischen
Jugend“ gehörte, welche die Sozialdemokratische Partei vor allem
zu erfassen und zu bilden hoffte. Ich war vielmehr ein privilegier¬
tes junges Mädchen, zwar äußerst arm, aber Mittelschülerin der
Bundeserziehungsanstalt Hernals, in welche Otto Glöckel 1919
das ehemalige Offhizierstöchter Erziehungsinstitut umgewandelt
hatte. Dort hatte ich einen Stiftungsfreiplatz der Gemeinde Wien.

Man muß daher fragen: „Was leistete die Bildungsorganisation
für minder Privilegierte, für die Arbeiter?“ Die Antwort darauf
kann nur lauten: „Ungeheuer viel!“

Da gab es zunächst die laufenden Vorträge in den Parteisektio¬
nen der Bezirke. Das Radio war in seinen ersten Anfängen, vom
Fernsehen keine Rede - also fanden sich in den wöchentlichen
Sektionsversammlungen immer viele Mitglieder ein. Neben den
Arbeiterheimen, den aus den Ersten Weltkrieg stammenden Baracken
und neuerdings auch den Lokalen in den Gemeindebauten standen
nur noch Wirtshäuser für diese Versammlungen zur Verfügung.

Ich erinnere mich, daß ich mich nur schwer an die Häßlichkeit
der Barackenräume gewöhnte, die mit rotem Fahnentuch dürftig
verschönert waren.

Als ich mich zum ersten Mal im Sektionslokal unseres neuen
Wohngebietes einfand, eröffnete der Obmann den Abend mit den
Worten: „Ich begrüße die Genossen und Genossinnen zum zweiten
Abend unseres Zyklusses ‚Die großen Männer des Sozialismus‘.“

Als 15-jährige Mittelschülerin erkannte ich natürlich den Lap¬
sus und wäre bereit gewesen, ihn zu belächeln, wenn mich der
Gedanke daran nicht gehindert hätte, daß hinter diesem Fehler
im Grunde das Bemühen um eine „richtige“ Sprache lag.

Die vielen Sektionsversammlungen erforderten eine große Zahl
von Vortragenden, und es mag anfangs für die Bildungsorgani¬
sation nicht immer leicht gewesen sein, für jeden Abend einen
geeigneten „Referenten“ zu finden.

Das änderte sich, als in Ungarn 1920 die Räterepublik zusam¬
menbrach und mit dem Beginn des Horthy-Regimes ungarische
Sozialisten nach Österreich flüchteten. Die Intellektuellen unter
ihnen bereicherten die Bildungsorganisation in hohem Maße, und
ich erinnere mich, viel von solchen Vorträgen gelernt zu haben.

Ihre wichtigste Aufgabe sah die Bildungsorganisation in der
ersten Erziehung der Mitglieder zu Sozialisten. Das geschah in
der Hauptsache mit Hilfe von Vorträgen über das Wesen und
die Geschichte des Sozialismus. An den Sektionsabenden hörten
die Mitglieder von den frühen Utopisten, von Saint-Simon, von
der Genossenschaftsvariante des Schulze-Delitzsch, von Lassalle
und endlich von Marx und Engels. Diese, als Vertreter des „wis¬
senschaftlichen“ Sozialismus, waren die wahren Sozialisten, ihre
Lehre allein geeignet, die Arbeiter aus dem Elend zu führen. Denn
nach ihrer Lehre arbeitete die geschichtliche Entwicklung für sie:
Der Sozialismus nußte kommen. Dieser Leitsatz, man darf sagen,
dieses Dogma, wurde in der Marxistischen Studiengemeinschaft
gelehrt und diskutiert. Von dort kamen viele Vortragende fiir
die Sektion, welche — von der Bildungsorganisation eingesetzt

- den „Austromarxismus“ ins Volk trugen, jenen Austromarxis¬
mus, welcher den Kommunismus ablehnte, dennoch, wenigstens
anfangs, der Sowjetunion freundschaftlich, dem „bürgerlichen
Parlamentarismus“ kritisch und solcherart dem wesentlichen
Demokratiegedanken ambivalent gegenüberstand.

Mit besonderem Erfolg vermochte Max Adler die Jugend für
diese Lehre zu begeistern. Politik, so sagte er, sei keineswegs ein
schmutziges Geschäft. Das Wort leite sich vom griechischen „politeia“
ab und das sei mit „Sorge für das Gemeinwohl“ zu übersetzen.

Das prägte sich mir tiefein. Für das Gemeinwohl zu sorgen, das
schien mir eine gute Sache, und dieser Meinung bin ich noch heute.

Wie ich bereits erwähnte, mag es anfangs nicht immer möglich
gewesen sein, geeignete politische Referenten für die Sektions¬
abende zu finden. So erinnere ich mich an einen sektiererisch
wirkenden Mann, der in unserer Sektion enthusiastisch über die
Heilkraft der Sonnenstrahlen sprach. Er wirkte etwas wunderlich.

Und dennoch war sein Vortrag ganz dem Bildungsprogramm
entsprechend. Denn zur Arbeiterbildung jener Zeit gehörte auch
Hygiene. Besonders in der Tuberkulosestadt Wien mit ihren fins¬
teren, oft feuchten Arbeiterwohnungen war die Aufklärung über
ein gesünderes Leben von großer Wichtigkeit. „Wie wasche ich
mich ordentlich in einer Zimmer-Küche-Wohnung?“ läßt die
Wochenzeitung „Die Unzufriedene“ ein junges Mädchen fragen,
das mit Eltern und Geschwistern zusammenwohnt.

Die Gemeindewohnungen hatten keine Badezimmer, aber
Gemeinschaftsbäder - ein ungeheurer Fortschritt. Die Gemein¬
de Wien baute Planschbecken für Kinder, und in Artikeln und
Vorträgen wurde immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig
Luft und Sonne für einen gesunden Körper seien.

Den Körper entblößen — das mußte erst erlernt werden. In der
von der katholischen Kirche beherrschten Schule waren Keusch¬
heitsregeln gelehrt worden, nach welchen mancherorts schon eine
kurzärmelige Bluse gegen die Sittlichkeit verstieß.

In diesem Zusammenhang erlangten Sport und Wandern einen
wichtigen Platz neben der Erziehung zum Sozialismus. Dabei
ging es nicht mehr allein um Vorträge.

Vom einfachen Sonntagsausflug, zu dem sich am Morgen bei
den Endstationen der Wiener Straßenbahn Familien- und Jugend¬
gruppen versammelten, um den Tag auf einer Wiese nahe dem
Wald zu verbringen, bis zu den Naturfreunden, welche größere
Wanderungen unternahmen, den Bergsteigern, Faltbootfahrern
und allen anderen Arbeiter-Sportgruppen, verbrachte der Großteil
der organisierten Arbeiter den Sonntag im Freien.

Das war neu.

Am Sonntag war bisher die Familienmutter am Vormittag in
der Küche gestanden, um mittags neben dem Erdäpfel- oder
Gurkensalat das panierte Schnitzel — und sei es nur vom Pferde¬
fleischhacker gewesen — aufzutischen, danach abzuwaschen und
erst dann, wenn sie nicht zu miide war, wurde ein Familienspa¬
ziergang unternommen.

„Hat das Mädel kein Sonntagskleid?“, fragte eine Tante.
„Ja“, sagte meine Mutter, „aber sie will es nicht anziehen.“

Nein, das wollte ich nicht. Eine frischgewaschene weiße Bluse,
ein Rock und eine „Windjacke“ — das war unsere Tracht, die aus
Rußland kam. Keine Stöckelschuhe, keine Ohrringe („Warum
nicht auch ein Ring durch die Nase?“, fragten wir), die Haare
kurz, die Stirn frei.

Zu alledem hatte sich in dieser Massenbewegung ein Hang zur
Enthaltsamkeit durchgesetzt. Die Sozialdemokraten, vor allem die
jungen, waren in der Phäakenstadt zu Alkoholgegner geworden.

November 2014 33