Das war ein Vermächtnis Victor Adlers. Und dieses Vermächtnis
war Teil des Bildungsprogrammes: Der trinkende Arbeiter denkt
nicht, der denkende Arbeiter trinkt nicht!
Victor Adler hatte gegen den übermäßigen Biergenuß der
Wiener Arbeiter während seines Kampfes um das Wahlrecht zu
kämpfen gehabt. Um ein Beispiel zu geben, verzichtete er auf
sein abendliches Krügel Bier. Das war bekannt, und 1925 war die
Vaterfigur der österreichischen Sozialdemokratie im Bewußtsein
der Arbeiter noch lebendig. In Vorträgen und Zeitungsartikeln
warb der „Arbeiter-Abstinentenbund“ um Mitglieder.
Eine ungeheure Leistung der sozialdemokratischen Bildungsarbeit!
Freilich, der Mensch ist schwach und ich erinnere mich an
manche heitere Szene, wenn ein Kusin, ein jüngerer Onkel, er¬
hitzt vom Ballspiel, heimlich zur „Bieglerhütte“ entwich, um dort
mit einem Seidel Bier seinen Durst zu stillen. Nachher, zur Rede
gestellt, leugneten sie.
Wir jungen aber blieben fest, weigerten uns, den Eltern ein
Krügel Bier vom Wirt zu holen und spuckten empört das angebo¬
tene Schnapszuckerl aus, das wir irrtümlich angenommen hatten.
Die Italienreise, der Sprechchor, der Rednerkurs — sie waren
mein Einstieg in die Sozialdemokratische Partei, die sich solcher¬
art als das erwies, was sie, nach den Worten David Josef Bachs,
neben ihrer primären politischen Funktion in einem hohen Maße
gewesen ist: eine Kulturbewegung. Und diese Kulturbewegung
wurde - neben der Kunststelle, deren Aufgabe auf Iheater- und
Konzertbesuch sowie auf Festgestaltung spezialisiert waren — von
der Bildungsorganisation der Partei verwaltet.
Kultur und Politik lassen sich natürlich nicht voneinander trennen.
1923 schlossen sich der Verein „Freie Schule“ und die „Kinder¬
freunde“ zum Sozialdemokratischen Erziehungs- und Schulverein
„Freie Schule-Kinderfreunde“ zusammen.
Der ursprünglich liberale Verein „Freie Schule“ kämpfte vor
allem gegen die Beherrschung der Schule durch die katholische
Kirche und strebte erfolgreich pädagogische Reformen an, welche
in einer eigenen Schule in der Albertgasse in Wien angewendet
wurden. Das Gebäude dieser Schule ist noch heute im Besitz der
Sozialdemokratischen Partei.
Weniger klar waren in jener Zeit die Ziele der „Kinderfreunde“.
Die Mehrzahl der Parteifunktionäre sahen ihren Zweck in der Er¬
richtung von Horten zur Betreuung der Kinder, wo man mit ihnen
spielte und wanderte, wobei sie gefühlsmäßig im sozialistischen
Sinne beeinflußt wurden und zu künftigen Parteifunktionären
heranwachsen konnten.
Radikaler waren die Forderungen Max Adlers und des Leiters
der „Schönbrunner Schule“. Dieser, Otto Felix Kanitz, bildete
in Schönbrunn die Erzieher für die Kinderfreundehorte aus. Er
selbst, in einem Waisenhaus extrem katholisch erzogen, war jetzt,
als überzeugter Marxist und Schüler des Philosophen Natorp, um
eine Theorie der sozialistischen Erziehung bemüht. Das Ziel war
ein doppeltes: Die Kinder sollten sowohl zu Kämpfern für die
Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, als auch zu
Menschen erzogen werden, welche geeignet und würdig waren,
in der sozialistischen Gemeinschaft zu leben.
Unrealistisch hoch legte der sowohl idealistische als auch mar¬
xistische Max Adler die Latte für die „Erziehung der Erzieher
proletarischer Kinder“. Eine auch nur annähernde Verwirklichung
seines Vorschlages für die Heranbildung des „Neuen Menschen“
hätte Geldsummen erfordert, die kein Gemeinwesen aufzubringen
imstande gewesen wäre.
Sowohl Max Adler als auch Kanitz waren in ihrer marxistischen
Begeisterung völlig blind für den pädagogisch genialen Begründer
der „Kinderfreunde“, Anton Afritsch, welcher vor allem die Eltern
in ihrer Erziehungsarbeit unterstützen wollte und verkannten
ebenso den radikalen Erziehungsreformer Max Winter, der die
Einschränkung „proletarischer“ Kinder ablehnte.
Mit Adler und Kanitz kritisierten die „Linken“ die „bürgerliche“
Schulreform Otto Glöckels.
Sehr hoch gingen in diesem Meinungsstreit die Wogen. Die
Bildungsorganisation ließ, gemäßigt, die Vertreter aller Meinungen
zu Wort kommen, ohne den Konflikt herauszuarbeiten.
Der unbestreitbar notwendige Kampf gegen die politischen
Ansprüche der katholischen Kirche stärkte die Stellung des „Frei¬
denkerbundes“ in der Partei. Leider sank dessen Aufklärungsarbeit
gelegentlich auf das Niveau von Witzen über Pfarrersköchinnen.
Auch die Monisten waren Gegner der katholischen Kirche und
als Anhänger des Philosophen Ernst Haeckel „Materialisten“.
Haeckels „Welträtsel“, 1899 erschienen, gehörte neben den po¬
pulären Schriften von Marx und Engels zum Grundbestand jeder
Arbeiterbücherei. Auch die Monisten wurden von der Bildungs¬
organisation betreut.
In Polen hatte der jüdische Augenarzt Lazar Zamenhof, um
die verschiedensprachigen Nationen seiner Heimat einander nä¬
herzubringen und damit Frieden zu fördern, eine internationale
Hilfssprache, Esperanto, erarbeitet.
Die österreichische Sozialdemokratie trat für Völkerverständi¬
gung und Frieden ein, also nahm ihre Bildungsorganisation auch
die Esperantisten als Arbeiter-Esperantisten in ihr Programm auf,
denn nicht alle pazifistisch gesinnten Esperantisten waren auch
Sozialisten.
So sorgte die Bildungsorganisation nicht allein für die vorwie¬
gend politisch motivierten Arbeiter, welche in erster Linie eine
ökonomische Besserstellung oder soziale Gerechtigkeit erwarteten,
sondern auch für solche Mitglieder, die sich neben der Erfüllung
ihrer politischen Forderungen auch eine Unterstützung ihrer kul¬
turellen Bestrebungen erhofften.
Wo immer eine kulturelle Vereinigung Ideen vertrat, welche im
Gedankengebäude der Sozialdemokratischen Partei unterzubringen
war, gründete sie für deren Anhänger eine Organisation, meist mit
dem Vorsatz „Arbeiter“, die dann von der Bildungsorganisation
betreut wurde. Ist das noch zu verstehen, befremdet dagegen
die bald darauf einsetzende totale Vereinnahmung der Mitglie¬
der mit ihren Freizeitinteressen. Man braucht nur den täglichen
Vereinsanzeiger in der „Arbeiter-Zeitung“ der Zwischenkriegszeit
anzusehen, um frappiert ein unvorstellbares Sammel-Surium von
organisierter Freizeittätigkeit festzustellen.
Es gab Arbeiter-Esperantisten, Arbeiter-Turnvereine, Arbeiter¬
Schachspieler, ebenso Kleingartner und Kaninchenziichter. Es
gab keine Freizeitbeschäftigung, welche die Bildungsorganisation
nicht erfaßt hätte, und es war eine Todsünde, als Hobby-Fotograf
oder Taubenzüchter einem „bürgerlichen“ Verein anzugehören.
Daß man Mitglied des Bestattungsvereines „Die Flamme“ war,
verstand sich von selbst: Als bewußter Sozialist ließ man sich nach
dem Tode nicht begraben, sondern verbrennen - ein Vorgang, der
zu jener Zeit von der katholischen Kirche verboten war. Zur be¬
wundernswerten sozialdemokratischen Bautätigkeit zählt demnach
auch das schöne Krematorium in Wien, wo die konfessionslosen
verstorbenen Sozialisten würdig von ihren Gesinnungsgenossen
verabschiedet wurden — ohne Priester.
Immer mehr Sozialdemokraten traten aus der katholischen
Kirche aus, besonders nach den Juliereignissen im Jahre 1927,