alt- bzw. neostalinistischen Auffassungen sich zurechtlegen, zeigt
etwa auch die Bemerkung, dass Knepler „dem Gerede vom ‚Neuen
Denken‘, das Michail Gorbatschow ... propagierte, ... nicht auf
den Leim“ gegangen sei (S. 353). In Wahrheit war er von Gor¬
batschow und der neuesten Entwicklung in der Sowjetunion, die
doch nur deren Ende einleitete, geradezu begeistert und wehrte
skeptische Einwände, auch wenn sie nicht von Stalinisten, sondern
von radikalen Linken kamen, durchwegs ab (ganzähnlich übrigens
wie Leo Kofler, mit dem ich damals ebenfalls Gelegenheit hatte,
darüber zu diskutieren) — und zwar genau deshalb, weil er auch in
dieser Periode eine etatistische, im wesentlichen Lenin folgende
Vorstellung von Revolution nicht preisgeben wollte.
Der größte Mangel der Biographie ist aber die unzulängliche
Darstellung der Schriften und Vorträge. Die Autoren entwickeln
hier, wenig überraschend angesichts ihrer eigenen Diktion, kaum
das nötige Interesse fürs sprachliche und musikalische Detail,
für das scheinbar Ephemere, wo aber zunächst die Stärke Georg
Kneplers als Musiker und Wissenschaftler lag: Von hier aus konnte
er dem Zug des Ganzen, wie er von der Parteilinie als Geschichts¬
bild vorgegeben war, widersprechen. Wer ihn bei Vorträgen am
Klavier erlebt hat oder sogar von ihm Lektionen erhielt, weiß, mit
welcher Hingabe er an dem scheinbar unwesentlichen Detail die
wesentlichen Zusammenhänge deutlich machen konnte. Darin
wurde sichtbar, was ihn mit seinem Lehrer, dem Pianisten Eduard
Steuermann, wie mit der Schönbergschule insgesamt verband:
Intention und Fähigkeit, ein Akzidens zu akzentuieren, ohne
dass es sich darum von dem umfassenderen musikalischen Idiom
abtrennen ließe. Kneplers punktuelle Analysen einer bestimmten
Passage im Scherzo von Schuberts Streichquintett C-Dur, aus dem
dritten Akt des Tristan oder dem zweiten der Götterdämmerung in
der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts* suchen ihresgleichen in
der musikwissenschaftlichen Forschung, weil es ihnen eben gelingt,
die Gegensätze, die als unmittelbar weltanschauliche oder sozial¬
historische nur verfehlt werden, in der Musik selbst freizulegen,
deren Prozess als ihre Synthese zu begreifen, wo immer sich ein
Nichtidentisches zeigt, — und in der Notwendigkeit zur Synthese
das gesellschaftliche Moment zu erfassen. Das gilt umso mehr
für das spätere Mozart-Buch’, wo er im Einzelnen einer kleinen
musikalischen Wendung die Mozartsche Arbeit des „Differentma¬
chens“ offenzulegen vermag und damit über das, was Aufklärung
in der Musik sein kann, Auskunft gibt wie kaum jemals in der
Mozartforschung.
In diesem späten Buch erscheint das apologetische Verhältnis
zur DDR in der Darstellung des josephinischen Staatswesens
gleichsam sublimiert. Das Dogmatische allerdings, das dabei in
seinem Denken nicht ganz verschwand, ließ ihn zugleich davor
zurückweichen, den Marxismus selbst noch als Verballhornung
der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie zu erfassen und
deren Faden wieder aufzunehmen. Lieber beschäftigte er sich mit
der Frage des Ursprungs der Menschheit, um daraus in den letzten
Lebensjahren trügerische Hoffnung für die Gegenwart zu schöpfen
(siehe die aus dem Nachlass 2004 herausgegebene Schrift Macht ohne
Herrschaft, wo Gestalten wie Putin und Chavez als Hoffnungsträger
figurieren). Die innere Abwehr in Georg Kneplers Denken, die sich
ganz zuletzt noch verhärten sollte, und zugleich das Erhellende,
sein Sinn für den Widerspruch — dieses Nebeneinander zeigt, dass
es Grenzen der Vermittlung gibt, wenn die Gesellschaft selbst
auseinanderbricht, und unwillkürlich lässt das an die beiden Fotos
aus der Kindheit mit dem k. u. k. Kinder-Militärmantel und mit
den Sommerkleidern denken. Das Düstere, das die Parteiexistenz
mit sich brachte, auf der einen Seite; das Glück in der Familie,
die Georg Knepler so wichtig war, auf der anderen. In der Familie
konnte, wie es schien, etwas wie Normalität wieder einkehren: Er
heiratete die Engländerin Florence Wiles, die er im Exil kennen¬
gelernt hatte, Sohn John kam 1947 in Österreich auf die Welt. Es
war aber eine ganz unkonventionelle Normalität, dafür sorgten
schon gewisse englische Konventionen, die im Alltag beibehalten
wurden. Unter solchen Rahmenbedingungen konnte etwas von
jenem Glück dann auch den vielen Freunden zuteil werden, denn
es war ein sehr offenes Familienleben, das man in der Grünau in
Berlin und bei den vielen Besuchen in Österreich und England
führte, letztere waren aber nur möglich, weil man die österreichi¬
sche Staatsbürgerschaft nicht aufgegeben hatte. Und die Eltern,
die Georg Knepler auf der Flucht vor den Nazis nach England
gefolgt waren, zogen in den 1950er Jahren nach Wien zurück
und konnten nun wieder den Sommer in Bad Ischl verbringen.
Hugo Knepler jedoch war noch 1944 in Auschwitz umgebracht
worden; seine Frau Hedwig überlebte die ganzen Jahre hindurch
versteckt in Wien und wanderte sofort nach der Befreiung in die
USA aus, zu ihrem Sohn Henry, dem glücklicherweise auch die
Flucht gelungen war.
Es bleibt also bei Georg Kepler - wie vielleicht auch bei anderen
aus dem Judentum kommenden Parteikommunisten — der Eindruck
einer besonders ausgeprägten Doppelexistenz. Die Familie - und
damit auch das Judentum - verlor niemals ihre Bedeutung für
ihn, auch und gerade wenn er ironisch über diese ‚Anhänglichkeit‘
sprechen konnte, war das spürbar. Der Parteisoldat erscheint von
der Familie aus als etwas ihm zugleich Äußerliches. (Das zeigen auf
paradoxe Weise die Fotos aus den fünfziger und sechziger Jahren,
von denen mehrere in der Biographie zu finden sind und die ihn
noch im Kreis der Familie in eigenartig erstarrter Pose porträtieren,
als müsste er etwas verbergen; so gleichen sie irgendwie dem Habt
Acht des Kinderfotos.) Vermutlich war es nicht zuletzt der Rückhalt
in der Kindheit und in der Familie, die substantiellen Beziehungen
zu Frau und Sohn, wodurch dann jene Öffnung möglich wurde,
so wie es umgekehrt die gewiss schwer erträglichen Ressentiments
im Elternhaus waren, denen er ein Leben lang opponierte und
die seinen Widerspruchgeist wach hielten. Es könnte auch hier,
in dieser ambivalenten Haltung, sogar einer der Gründe für seine
Fähigkeit geschen werden, auf die Musik selbst mit solcher Liebe
zum Akzidentiellen sich einzulassen.
Liegt es in der Logik der biographischen Darstellung von Mugrauer
und Oberkofler, dass sie kein einziges Foto von Georg Knepler aus
der Zeit vor und nach der ‚Wende‘ enthält, gehört es doch zu ihren
guten Seiten, wenn sie, was man in anderer Weise als üblich den
‚Familiensinn‘ Georg Kneplers nennen müsste, nicht verleugnet,
sondern mit vielen Zitaten aus persönlichen Briefen und aus Reden
zu Geburtstagsfeiern und Hochzeitstagen dokumentiert, wobeisich
dieser Sinn bei letzteren Gelegenheiten naturgemäß eher in den
Formen Bad Ischler Idyllen zu äußern vermag. In einer dieser Reden
sagte Georg Knepler: „1959 in Ischl fand ein feierliches Ereignis
statt. Zum ersten Mal seit 1934 war die ganze Familie Knepler
beisammen, 25 Jahre waren verstrichen — ein Vierteljahrhundert
immerhin —, seit das möglich war und die Mutter, an jedem Arm
einen ‚Buben‘, die Esplanade hinunterspazieren konnte.“
Gerhard Oberkofler, Manfred Mugrauer: Georg Knepler. Musikwis¬
senschaftler und marxistischer Denker aus Wien. Innsbruck, Wien:
Studien Verlag 2014. 426 S. Euro 39,90