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Brigitte Spreitzer

Anna Freud als Dichterin

Anna Freud ist als Sigmund Freuds jüngste Tochter seine Nach¬
folgerin auf dem Gebiet der Psychoanalyse und als Pionierin der
Kinderanalyse eine bekannte Persönlichkeit. Ihre literarischen
Texte jedoch wurden erst 2014 vollständig ediert.' Wer war Anna
Freud als Dichterin?

Was an Versen jemals ich vernommen,
Türmte sich im Kopfe mir zu Hauf‘.

(..)

Strömen mufst in fremden Vers ich lassen,
Was in Leid und Jubel mich erregt,

Denn mein eigen Wort nicht konnt erfassen,
Was, in Träumen kämpfend, mich bewegt.

(..)

Angstvoll ließ ich meine Lippen proben,
Was doch leerer Klang dem Herzen blieb.

(...) nach seinem Sänger schrie mein Herze,
Der — wie David einst vor Saul — ihm spielt,
Dessen Harfe spräch zu seinem Schmerze,
Dessen Stimme seine Note stillt.

Selber möcht ich diese Harfe schlagen,
Selbst erproben eigner Verse Kraft,

Reifen meine Seele vom Verzagen,
Tun, was fremder Dichter Wort nicht schafft.

Nacht und Qualen sollt mein Lied bezwingen,
Jubelnd steigen zu der Freude Reich,

Dienend wollt ich meiner Seele singen,

David wollt ich sein und Saul zugleich.”

In diesen 1918 entstandenen Versen kommt Anna Freuds Sehn¬
sucht zum Ausdruck, den eigenen schöpferischen Impulsen zu
folgen. Sie ist verbunden mit der Hoffnung auf die psychische
Heilkraft künstlerischer Kreativität.

Anna Freud hatte zu diesem Zeitpunkt ihre Analyse beim Vater
begonnen - eine latent inzestuöse Übertragungsinduktion, die
nach der heutigen Psychoanalyse natürlich nicht mehr denkbar
wäre. Die verstärkte dichterische Produktion dieser Jahre deutet
ihre Biographin Elizabeth Young-Bruchl als Folge der Intensivie¬
rung ihrer Auseinandersetzung mit dem eigenen Innenleben.’ Aber
auch schon in den Jahren vor der Analyse suchte Anna Freud nach
einer Möglichkeit des künstlerischen Selbstausdrucks im Medium
literarischer Sprache. Die frühesten erhaltenen Texte stammen aus
der Zeit um 1914. Es handelt sich um Gedichte, eine Prosaskizze
und Übertragungen englischsprachiger Lyrik. Mitschülerinnen

erinnerten sich an Anna Freud als junges Mädchen, das ganz in
seine Fantasiewelt versunken und über Jahre damit beschäftigt war,
Geschichten in Fortsetzungen in schwarze Schulhefte einzutragen.“
Als Anna Freud 1922 ihren Antrittsvortrag zur Aufnahme in die
Wiener Psychoanalytische Vereinigung hielt, berichtete sie aus dem
anonymisierten Fallbeispiel eines fünfzehnjährigen Mädchens,
bei dem es sich ganz eindeutig um sie selbst handelte.’ Zentrale
Frage des Vortrags ist die Transformation der Fantasietätigkeit
im Dienste der Triebbefriedigung in dichterische Produktivität.
Die angehende Psychoanalytikerin schildert den innerpsychi¬
schen Prozess, der das Mädchen Anna Freud vom Tagträumen
zum Projekt literarischen Schreibens führt. Dabei offenbart die
Fallschilderung aus eigener Hand, dass das Geschichten-Erfinden
— von seiner libidinösen Funktion aus psychoanalytischer Sicht
einmal abgesehen — Anna schon als Kind begeistert hat. Gerade
für dieses Erzählen und Ausspinnen von Geschichten blieb sie bis
zu ihrem Lebensende bekannt.’ In einem undatierten Gedicht
mit dem Titel Nacht bekommen wir diese Zusammenhänge zu
fassen: ein lyrisches Ich, das ‚schöne Geschichten‘ zu erzählen
weis; das einen im lyrischen Du externalisierten Selbstanteil mit
diesen Geschichten in den Kafig des Triebverzichts zuriicklockt;
eine in der Autorstimme latent greifbare Psychoanalytikerin Anna
Freud, die darin die Trieb6konomie der Sublimation erblickt, und
eine Dichterin Anna Freud, die im Schreiben des Gedichts den
Akt der Sublimation vollzieht:

Nacht.

Ein Fieber ist in mir und treibt mich fort. Den Sinn
Hab ich so fest verschlossen ja seit Jahren.

Doch heut ist eine Türe aufgegangen und es stürzt
Sich wild heraus was lang sich drinnen drängte. —
(...)

Ich wünsche eine Stunde einen Tag

Mich selber los zu werden, (...)

(...)

Der Mann, der Karrenzieher, möchte ich sein,
(...)

Der Träger, dem die Last den Nacken beugt,
Ein andrer nur, der sich nicht füttern muß —
— Wie ich es nun seit langen Jahren treibe.
(...)

Ja, wie der Knabe in dem armen Lied,

Das nie geschrieben wurde, knien mußt

Vor Menschen, da kein Gott sich mehr ihm fand —
So lieg auch ich, die einst so stolz gewesen
Nun tief im Staub, ja ganz von Staub bedeckt
Und meine Hände bluten, weil die Tür,

Die einer aufgerissen heute Nacht,

Sie nicht mehr in die Angeln drängen können.

Ich glaube ofi, wenn ich am Abend ginge

September 2015 39