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Weinheber“ wollte die Künstlerin Marika Schmiedt heuer der
Verfolgten gedenken und die vorhandene ambivalente Gedenk¬
und Erinnerungskultur reflektieren und hinterfragen.

Doch die Genehmigung für die Intervention wurde von Bür¬
germeister Paul Horsak abgelehnt. Sein Argument im Brief an
die Künstlerin war: „Man soll zwar nie vergessen und schon gar
nicht völlig verdrängen, aber die heutigen Generationen sind

NEUE TEXTE

sehr wohl der Ansicht, dass die Vergangenheit ruhen soll.“ Seit
Anfang August haben dem Bürgermeister geantwortet: Alexan¬
dra Caruso, Doron Rabinovici, Samy Teicher, Elisabeth Brainin,
Jasmina Tumbas.

Die gesamte Dokumentation findet man im Internet unter:

https://marikaschmiedt.wordpress.com/
AE

Alexander Melach
Zweite Generation

Wir kommen aus nicht enden wollenden Umarmungen.

Wir kommen aus den Wunschträumen von Todgeweihten,

sind die Familien, die Ermordete nie gründeten.

Wir kommen aus deren verwaisten Träumen,

die uns in sanften Nächten überfallen,

wenn unser Leben aufblühen will.

Dann nimmt des Frühlings Lauheit uns den Atem,

erstickend suchen wir nach jenem Abgrund,

der unsere Heimat darstellt:

amphibiengleich — als wären plötzlich wir der menschlichen
Gestalt beraubt —

die Wasser suchend,

denen wir entstiegen.

Wir kommen aus der Asche der Verbrannten.

Und leben auch für die,

die jene nicht mehr zeugen und gebären konnten,

sobald Leben innerhalb von Augenblicken ausgelöscht war,
oder in Minuten, Stunden, Wochen oder qualenvollen Jahren
versickerte, versank im Treibsand

fremder Ängste, fremden Hasses,

stumpfer Gemeinheit und verzweifelten Versuchen,
Menschen wie uns für immer von der Erde auszurotten.
Wir sind Visionen derer, die nicht überlebten,

verwirklicht von ein paaren, die es schafften.

Wir kommen aus der Asche der Verbrannten,
entstiegen der Verzweiflung derer, die doch überlebten.
Darüber dass sie überlebten.

Entstiegen zärtlich und verletzbar der Verzweiflung,
wie frische Tage einer Nacht,

Tage, die unsere Eltern jeden Morgen

erneut das Licht der Welt erblicken liessen.

Wie jener oft verbrannte fabelhafte Vogel,

der aus den eigenen, verkohlten Überresten,
solange sie noch schwelen,

schon erneut die Schwingen hebt.

Wir kommen aus der Asche der Verbrannten,

dass es uns gibt, können wir selbst nicht immer glauben.
Dass es uns gibt, ist zugleich Last und Auftrag,

der nur bei Unseresgleichen Anerkennung findet:

Wir sind, scheint es,

wie jener Vogel,

Fabelwesen in den Augen vieler,

für die wir gar nicht existieren sollten,

nicht auf diese Weise,

wie wir selbst uns fühlen.

Wir kommen aus Erinnerungen an verflossene Seligkeiten, ja,

und aus dem Glauben an ein nachhaltiges Glücks, das kommen
werde.

Und die Gewalt, in die wir ausgesät,

aus der wir keimten,

wirft man uns vor die Füsse,

auf unserem Weg.

Und unsere Herkunft aus dem Totenreich

wirft Schatten auf die unbedarften, sonnigen Kulturen,

in deren Harmlosigkeit längst erneut

die alte Flamme schwelt,

die uns aufs neue zu verbrennen sucht,

weil wir bedrohlich wirken:

denn als die Hölle sich verschloss, da wurden wir

verkörperte Gedanken Liebender,

wir wuchsen auf, von Staunen stets begleitet,

dass niemand uns die Knochen bricht,

als fleischgewordene Liebkosungen.

Wir kommen aus nicht enden wollende Umarmungen.
Und wie der fabelhafte Vogel,

fiihlen wir uns auferstanden zwar,

und doch in einem Zwischenstadium

wenn wir gerade nicht verbrennen.

Juni 2015

September 2015 65