andeutungsweise und in Halbwahrheiten ver¬
mittelte, erzeugten bei dieser eine dumpfe Ah¬
nung von Schuld, Hass und Schande.
Erst ein Artikel 1979 in der „Frankfurter
Rundschau“ schaffte bei der Tochter Klarheit.
Auf der ersten Seite wurde ausführlich über ei¬
nen Kriegsverbrecherprozess in Bologna berich¬
tet, „in dem mein Vater zu einer lebenslangen
Freiheitsstrafe in Abwesenheit verurteilt wur¬
de... wegen straferschwerenden Massenmordes.
(...) Und weil sein österreichischer Name so
selten ist und ich seinen Namen trage, wird jeder
wissen, dass es sich um meinen Vater handelt,
dachte ich voller Angst und Scham.“
Dass er nicht ihr leiblicher Vater war, hatte
die junge Frau bereits herausgefunden. Doch
da sie noch den Namen jenes Nazimörders
trug und die Mutter ihre Fragen immer wieder
mit unglaubwürdigen Geschichten über ihren
leiblichen Vater abwehrte, war sie mit dem un¬
gläubigen Staunen und abwehrenden Schweigen
ihrer Altersgenossen konfrontiert. „Auf die Idee,
„Menschen drängten sich vor einem Radioge¬
schäft. Sie hörten der Stimme zu, die aus dem
Lautsprecher kam. "Arbeiterpartei und Gewerk¬
schaften aufgelöst und verboten‘, sagte sie. "Io¬
desstrafe und Standgericht ... rücksichtslos und
ohne Milde’. Die Angst fuhr Peter in die Glieder.
Was tat er denn hier? Warum ging er denn nicht
nach Hause? Es war ja alles verloren, noch ehe
es richtig begonnen hatte.“
Diese Sätze stammen aus dem Roman „Gefan¬
gen zwischen zwei Kriegen“ des österreichisch¬
amerikanischen Journalisten und Schriftstellers
Kurt Neumann. Ein Auszug des Romans findet
sich in dem Sammelband „Im Kältefieber. Fe¬
bruargeschichten 1934“, herausgegeben von
dem Autor und Ubersetzer Erich Hackl und der
Literaturwissenschafterin Evelyne Polt—Heinzl.
Die Szene vor dem Radiogeschaft vermittelt
eine Stimmung, die sich in vielen der hier ver¬
sammelten Texte wiederfindet. Viele Protago¬
nisten sind, wie Peter, mit einem gewaltsam
ausgetragenen Konflikt konfrontiert, der sie
auch in einen inneren Konflikt treibt. Es sind
vierzig diistere Geschichten, die als Ensemble ein
beeindruckendes Bild der Ereignisse des öster¬
reichischen Bürgerkrieges zeichnen. Von 12. bis
15. Februar 1934 bekämpften sich v.a. in Wien,
Teilen Oberösterreichs und der Steiermark Mit¬
glieder des Republikanischen Schutzbundes der
Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei und das
der Regierung Dollfuß unterstehende Militär,
unterstützt von Polizei und der als „Hilfspolizei“
eingesetzten Heimwehr.
Heute ist kaum vorstellbar, dass vor rund 80
Jahren zwischen den beiden großen politischen
Strömungen des Landes eine bewaffnete Aus¬
einandersetzung ausbrach, hier in Österreich,
im Land der Sozialpartnerschaft, im Land der
Kompromisse. Doch auch damals, so liest man
uns gegenseitig zu fragen, wie es uns mit dieser
Information geht, kamen wir nicht.“
Ihre ausführliche Recherche ergab am Ende,
dass ihr leiblicher Vater Mitarbeiter Wernher
von Brauns im KZ Mittelbau-Dora gewesen war.
Ein weiterer Kriegsverbrecher also. Die Mutter
mittlerweile eine veritable Alkoholikerin. Es
dauerte lange, bis Ursula Sperling-Sinemus ihre
eigene Identität fand und annehmen konnte.
„Es dauerte noch etliche Jahre, bis ich es selbst
2003 wagte, an einer Gruppe mit jüdischen
und nichtjüdischen Deutschen zum Thema
‘Der Holocaust in uns’ unter der Leitung eines
Israelis, Yaacov Naor, und einer Deutschen, Hil¬
de Gött, teilzunehmen. Die Teilnahme an der
Gruppe war verbunden mit einer Reise nach
Auschwitz. Uns gegenseitig unsere Geschichte
mithilfe von Psychodrama zu zeigen, war sehr
bewegend und schmerzlich. Schmerzlich, weil
wir die Gräben zwischen den Kindern der Täter
und den Kindern der Opfer erlebten, die es
anzuerkennen galt.“
in den Texten, schockierte die Bevölkerung die
plötzliche Eskalation. Österreicher schossen
auf Österreicher, österreichisches Militär schoss
auf österreichische Wohnhäuser. Neben diesem
Schock stand die Hilflosigkeit vieler Sozialde¬
mokraten angesichts einer fehlenden zentralen
Führung. Das Credo, wie es sich immer wieder
in diesem Buch findet, lautete: Die Partei hat
versagt, sie hat ihre Anhängerschaft im Stich
gelassen, der Generalstreik ist gescheitert, die
Defensivtaktik und die fehlende Organisation
verhinderten eine schlagkräftige Gegenwehr.
Neben den Texten sind es die am Ende des
Buches angeführten Biographien der Autoren
und Autorinnen, die von den Ereignissen und
ihren Folgen erzählen. So erfährt man über Kurt
Neumann, dass dieser, in der sozialistischen Be¬
wegung engagiert, nach den Februarkämpfen
verhaftet wurde, später zur KPÖ übertrat, bis
1938 antinazistisch agitierte und schließlich
über mehrere Stationen in die USA emigrierte.
Viele seiner Genossen und Genossinnen ver¬
ließen schon 1934, eine für die österreichische
Sozialdemokratie entscheidende Zäsur, das
Land. Die Partei, von da an bis zum April 1945
verboten, arbeitete im Untergrund weiter. Viele
ihrer Anhänger schlossen sich jedoch nun den
Kommunisten an, andere fanden zu Dollfuß'
faschistischer „Vaterländischen Front“ oder gar
zu den Nationalsozialisten.
Die Kenntnis über die Hintergründe der Fe¬
bruarkämpfe ist für das Verständnis der neue¬
ren österreichischen Geschichte fundamental.
Angesichts der Tatsache, dass diese Ereignisse
im österreichischen Geschichtsbewusstsein
vergleichsweise wenig Raum einnehmen und
(österreichische) Literatur, die sich denselben
widmet, größtenteils unbekannt ist, gebührt den
beiden Herausgebern dieser zum 80. Jahrestag
In diesem Band sind 30 Lebensgeschichten
der Nachkommen von Verfolgten wie Verfolgern
versammelt, wobei auf Seite der Verfolgten ein
Sinto wie eine Vertreterin des politischen Wi¬
derstands zu Wort kommen. Alle stammen sie
aus Deutschland (BRD, West- und Ost-Berlin),
der Schweiz, Rumänien, Österreich, Polen und
Israel. Alle beschreiben in beeindruckender Wei¬
se, wie sie mit diesem, ihrem Erbe umgehen und
wie es ihnen gelang und weiterhin gelingt, dieses
in die Vergangenheit wie in die gesellschaftspo¬
litische Gegenwart einzuordnen.
Ein außerordentliches Zeugnis menschlichen
Muts und der Kraft zum genauen Hinsehen!
Susanne Alge
Beidseits von Auschwitz. Identitäten in Deutsch¬
land nach 1945. Hg. von Nea Weissberg und
Jürgen Müller-Hohagen. Nachwort von Halina
Birenbaum. Berlin: Lichtig-Verlag 2015. 346 S.
€ 21,50
publizierten Anthologie große Annerkennung.
Dem Verlauf des Konfliktes, von den ersten
Schüssen in Linz, über Kampfhandlungen in
großen Wiener Gemeindebauten, Gefechten in
der Steiermark, Fluchtversuchen in die Tsche¬
choslowakei, bis hin zu der von Spitzelwesen
und Verhaftungen geprägten Zeit danach, ent¬
spricht im Buch eine weitgehend chronologische
Kapitelfolge.
Gleichrangig finden sich unter den Autoren
und Autorinnen große Namen wie Jean Améry,
Veza Canetti oder Oskar Maria Graf mit unbe¬
kannten und vergessenen Autoren, Augenzeugen
oder Schutzbundkämpfern. Bis auf wenige Aus¬
nahmen erzählen hier Zeitgenossen und Zeit¬
genossinnen, die auf verschiede Weise selbst
betroffen und involviert waren. Gemäß dieser
Vielfalt variieren auch die Texte. Es finden sich
literarische Schilderungen ebenso wie journa¬
listische Reportagen oder schlicht vorgetragene
Erinnerungen. Oftmals gelingt es, die gespannte
Atmosphäre der Februartage aufzunehmen, die
vielen Stimmen und Verunsicherungen in der
Bevölkerung einzufangen.
Liest man längere Passagen des Sammelbandes
hintereinander, besteht allerdings die Gefahr
der Übersättigung. Denn die kurzen, dichten
Texte kreisen, jeder für sich, um dasselbe Thema.
Tragische Einzelschicksale wechseln einander ab.
Hinzu kommt die Kälte des Februars, worunter
die frierenden Menschen mit ihren heißen inne¬
ren und äußeren Wunden zusätzlich zu leiden
hatten. Diese Intensität wird schon im Titel
des Buches treffend ausgedrückt - ein elendes
„Kältefieber“ ohne Linderungen, ohne Trost.
Das alles ist der Tatsache geschuldet, dass
sämtliche Beiträge aus dem Blickwinkel der
Arbeiterschaft berichten, die mit den katastro¬
phalen Folgen des Konfliktes - Verfolgung und