Karl Popper nannte ihn „einen der aktivsten
Vorkämpfer der großen Kulturbewegung der
Wiener Arbeiterschaft (1918—1934)“.! Mehr als
dreißig Jahre nach dem Tod des Autors lädt ein
handliches Büchlein zur Wiederbegegnung mit
Fritz Kolb ein. Der Reformpadagoge, Psycholo¬
ge, Lehrer und Erzieher des Roten Wien und Di¬
plomat der Zweiten Republik, der 1939 bei einer
Himalaya-Expedition als „feindlicher Auslän¬
der“ interniert wurde, führt die LeserInnen an
ferne, andere Erinnerungsorte des Jahrhunderts
der Lager”. „Dieses Buch ist historisch, politik¬
wissenschaftlich und psychologisch ein höchst
aufschlussreiches Dokument, das den Lebens¬
weg eines bemerkenswerten Menschen zeich¬
net“, befindet Bundespräsident Heinz Fischer,
der in der Arbeiter-Zeitung 1983 den Nachruf
auf Fritz Kolb geschrieben hat, im Geleitwort.
Der „philologisch geschulte, pädagogische und
antifaschistische Blick“ mache das Buch zu einer
für das Verständnis der Zeit wichtigen Quelle,
umriss Margit Franz bei der Buchpräsentation
die Motivation für die späte Publikation.? Die
Historikerin und Exilforscherin war in Londo¬
ner Archiven auf den Briefverkehr des Wiener
Ehepaares Kolb gestoßen, das sich lange Zeit
um ein Placet der britischen Behörden für die
Einreise von Martha Kolb zu ihrem Gatten nach
Indien bemüht hatte. Zufälle ermöglichten den
Kontakt zur Tochter Susanna Morawetz, die als
Pädagogin und Naturfreunde-Wanderführerin
in die Fußstapfen ihrer Eltern getreten war,
und den Zugang zu dem unveröffentlichten
Manuskript. Im Buch führt sie den Autor mit
den persönlichen Anmerkungen einer Tochter
ein. Herausgegeben wurde es von Margit Franz
gemeinsam mit dem steirischen Schriftsteller,
CLIO-Mitarbeiter und Vorstandsmitglied der
Theodor Kramer Gesellschaft Karl Wimmler,
der sich zuletzt in Erzählungen mit Erinnerungs¬
und Vergessenskultur auseinandersetzte.‘
Wie ihre Schwester im Buch betonte Uni¬
versitatsprofessorin und Klimaforscherin Helga
Kromp-Kolb die Vielseitigkeit des Vaters bei
der Buchvorstellung im Bildungszentrum der
österreichischen Kinderfreunde, denen beide
Elternteile eng verbunden waren. Vielfältig und
differenziert analysiert Fritz Kolb das Leben in
der Retorte. Er skizziert die weltanschaulichen,
raumlichen und kommunikativen Strukturen
in vier indischen Internierungslagern, die ver¬
schiedenen Lagerflügel, die Wings, die „erste
Klasse“, die Seufzerallee... Er analysiert die
Entscheidungskriterien der britischen Leitung
für Freilassung oder Internierung und attes¬
tiert den Verantwortlichen korrekte Behandlung
der Internierten, auch wenn die Lagerleitung
die Anti-Nazis im Lager vorerst als Vaterlands¬
verräter und trouble makers geringschätzte und
bekennenden Sozialdemokraten, Internierten
mit engen Kontakten zu Vertretern der Unab¬
hängigkeitsbewegung, zu Buddhismus, Hindu¬
ismus oder Islam Konvertierten oder zu auffällig
Anglophilen misstraute. Er zeichnet zahlreiche,
Ambivalenzen nicht aussparende Porträts der
Personen der heterogenen Lagergesellschaft, die
Manager und Monteure deutscher Konzerne,
aus Deutschland vertriebene Juden, protestan¬
tische und katholische Missionare, Bergsteiger,
Preisringer, Zauberkünstler, eine östereichische
Schiffsmusikkapelle und italienische Kriegsge¬
fangene umfasste. Wir lernen Persönlichkeiten
wie Muhammad Asad kennen, 1900 als Leopold
Weiss in eine jüdische Familie im galizischen
Lemberg geboren, die 1914 nach Wien übersie¬
delt war. Er war Korrespondent für europäische
Zeitungen im Nahen Osten, fasziniert von der
Welt des Islam und durchdrungen vom Traum
eines islamischen Staates auf dem Boden In¬
diens.° Der Pazifist Herbert Fischer hingegen
war 1933 aus Deutschland geflohen und hatte
sich im Umkreis von Mahatma Gandhi an der
indischen Unabhängigkeitsbewegung beteiligt.’
Die Briten sahen sich also zeitweise nicht nur mit
der Gefahr einer von deutscher und japanischer
Weltbeherrschungshybris angetriebenen militä¬
rischen Zangenbewegung konfrontiert, sondern
auch mit massiven „Quit India“-Forderungen.
Fritz Kolb zeigt auf, wie sich die äußeren Ent¬
wicklungen auf Verhaltensweisen und Psyche
von Lagerleitung und Internierten auswirkten.
Die bisher politisch Indifferenten wurden mit
den deutschen Siegen zu erwachenden Deutschen,
zu Super-Nazi, die verlorenes Terrain aufholen
wollten, wahrend bei den Anti-Nazi die Angst
vor den für sie tödlichen Folgen einer Kapitu¬
lation Englands wuchs. Der Autor agiert nicht
nur als Beobachter, sondern gibt offen Einblick
in eigene Grenzsituationen und Frustrationen.
Anders als im Februar 1934 und März 1938,
als er den politischen Gegnern Anpassung sug¬
geriert hatte, um im Untergrund Widerstand
aufzubauen, verließ Fritz Kolb im Lager den
Schutzschirm der Mehrheit und stellte sich —
so eine Schlüsselszene des Buches — nach der
Verweigerung der „Führerhuldigung“ am 20.
April 1940 auf die Seite der anfänglich weni¬
gen Dissidenten. Als Supervisor, Mittelsmann
zum englischen Lagerkommandanten, gelang
es ihm, zunehmende Anerkennung und - nach
einem weihnachtlichen Uberfallsversuch durch
die Nazis — einen durch Stacheldraht geschiitz¬
ten eigenen Wing, eine Art Lager im Lager, für
die Anti-Nazi zu erlangen. Aber Dankbarkeit
war auch im Lager höchstens kurzfristig eine
politische Kategorie. Der Pädagoge des Roten
Wien, der durch die Ablehnung von Gewalt
und die Erziehung zur Gemeinschaft einen
„neuen, besseren Menschen“ schaffen woll¬
te, verlor im Lager zumindest vorübergehend
den Glauben an die Menschen, wie ein Brief
an seine Frau Martha belegt: „Ich war lange
Monate hindurch imstande, mit schwierigen
Mitinternierten ebenso geduldig zu sein wie mit
den schlimmsten Proletarierkindern in meiner
Wiener Vorstadtschule. Aber dann kam dieses
Deolali mit seinen schlechten Bedingungen,
mit den immer wieder enttäuschten Hoffnun¬
gen auf Freilassung ... Jeder zeigte sich von
seiner hässlichsten Seite, und ich als Supervi¬
sor sollte mit dem Haufen fertig werden. Das
veränderte auch mich nach und nach. Ich war
ungeduldig geworden und dabei angerührt, ich
hasste, — ich hasste — Leute, die dreckig waren,
oder die das bisschen Arbeit nicht taten, das
auf sie entfiel. Ich argerte mich, wenn sich so
viele krank meldeten, in der offensichtlichen
Absicht, ihr bisschen Arbeit auf die Anderen
abzuwälzen. Dies anstatt philosophisch festzu¬
stellen, so geht es eben in einer demoralisierten
Gesellschaft zu.“ Erst der Riicktritt, der Schritt
als Nummer zuriick in die Reihe habe ihm das
Gleichgewicht zurückgebracht. Offen schreibt
Fritz Kolb, der in einer Zeit der „Politisierung
und Medizinierung des Sexuellen“” bei Karl und
Charlotte Bühler an der Universität Wien über
Wege der geschlechtlichen Reifung beim Jugendli¬
chen. Eine psychologische Studie disserüert hatte,
auch über die Sexualität im Lager. Er erwähnt
auch mehrmals, dass sich die Eheleute gegensei¬
tig fiir den Fall einer langen Trennung sexuelle
Freiräume zugestanden hatten. Zensoren auf
Empfänger- und Senderseite und die langen
Intervalle erschwerten die Kommunikation mit
seiner Frau Martha in England. „Die Briefe aus
Österreich waren von einer verzweifelten Sach¬
lichkeit und Kürze. Hinter jedem Satz stand eine
Wirklichkeit, die verschwiegen werden musste.“
Das Wort "Österreich war aus einem Brief seines
Vaters herausgeschnitten worden. Erst dreißig
Jahre später erfuhr Fritz Kolb, dass sein Name
auf einer Fahndungsliste gestanden hatte, die die
Gestapo der Deutschen Wehrmacht mitgegeben
hatte, als diese in Russland einmarschierte. Die
heimische Repressionsmaschinerie hatte ihn,
der sich im Lager gleichzeitig mit Sport, Mu¬
sik, Sprachstudien, Sternenbeobachtung mit
einem selbst gebauten Teleskop, Gärtnerei,
Erforschung und Vermessung der Umgebung,
Hunden, dem Bau seiner Einsiedelei etc. die
Zeit vertrieb, nicht vergessen.
Dem Herausgeberteam verdanken wir wert¬
volle Hintergrundinformationen zur Vita Fritz
Kolbs, zu seinen Aktivitätsfeldern wie der Re¬
formpädagogik des Roten Wien und zum zeit¬
lichen Kontext. Penibel werden alle im Buch
gelegten Spuren von Namen, Orten etc. verfolgt
und mit archivarischen Zusatzinformationen
ergänzt, um auch die historische Bedeutung des
Textes zu verdeutlichen. So schreibt Fritz Kolb:
„Die Vertrauensmänner der NSDAP in Indien
hatten doch wahrhaftig den Subkontinent schon
in nationalsozialistische Gaue eingeteilt und für
jeden Gau einen Gauleiter bestimmt. Der Leiter
des Gaues Bombay wurde prompt zum Super¬
visor des Wings II 'gewahlt’. Er war ein Arzt na¬
mens Urchs.“ ,,Dr. Oswald Urchs, tschechischer
Arzt, nahm später die deutsche Staatsbürger¬
schaft an, lebte seit 1927 in Indien und arbeitete