Warum die Parallelisierung der Geschichte des Zionismus mit der
Geschichte von Judas, den Sie als „Tschernobyl des europäischen
Antisemitismus“ bezeichnet haben?
Ohne den europäischen Antisemitismus, ohne den christlichen
Antisemitismus, wäre der Zionismus wahrscheinlich nicht
entstanden. Das Land, in dem wir uns gerade befinden und
dieses Interview führen, ist ein beeindruckendes Beispiel für
die Geschichte von Juden, die verzweifelt versuchten, von der
sie umgebenden Mechrheitsgesellschaft integriert und geliebt
zu werden. Das hat nicht funktioniert. Das hat nirgendwo
funktioniert.
Denken Sie, dass Abrabanel, hätte er existiert, eine reale politische
Alternative zum Zionismus vorgeschlagen hätte?
Manche der israelischen Kritiker des Buches meinten, dass sich
hinter Abrabanel eine sehr kleine Gruppe Intellektueller um
Gershom Sholem und Martin Buber verberge, die in den 1930er
und 1940er Jahren in Jerusalem lebte und an eine binationale
Lösung glaubte. Aber das ist nicht Abrabanel. Im Gegensatz zu
jenen Intellektuellen war Abrabanel nicht ein Kind des zent¬
raleuropäischen Pazifismus zwischen den beiden Weltkriegen,
sondern ein Kind Jerusalems, zuhause unter Arabern wie unter
israelischen Juden. Darüber hinaus war er nicht für einen bi¬
nationalen Staat, sondern stellte die Idee von Nationalstaaten
selbst in Frage.
Also eher eine Perspektive, die unter orthodoxen Juden zu finden ist?
Ja! Er glaubte an eine Welt, in der es weder Platz für den Zionis¬
mus noch für irgendeinen Nationalismus geben würde. Eine
Welt ohne Staaten! 1000 Traditionen, 100 Zivilisationen, keine
Grenzen, keine Pässe. Ich glaube, Abrabanel entwirft damit ein
sehr überzeugendes Argument. Aber Gerschom Wald formuliert
ein überzeugendes Gegenargument, das auch von Ben-Gurion
stammen könnte, dessen Geist in dem Buch ohnehin sehr prä¬
sent ist. Es lautet: Eine Welt ohne Staaten ist eine wunderbare
Idee, aber warum sollten die Juden die Ersten oder die Einzigen
sein? Jahrtausendelang haben sie in dieser Hinsicht eine One¬
Man-Show gegeben. Ich habe „Judas“ nicht geschrieben, um
meinen Leserinnen und Lesern zu sagen: Stimmt für Abrabanel
oder für Ben-Gurion. Oder für Jesus. Oder für Judas. Oder für
Gerschom Wald.
So habe ich das Buch auch nicht gelesen, auch nicht als ein Buch über
Verräter, denn die Verräter sind in „Judas“ eigentlich die größten
Idealisten. Für mich handelt das Buch von Enttäuschung...
... Ja, und nicht nur von Enttäuschung, sondern auch von Des¬
illusionierung. Am Ende des Buches sind alle desillusioniert.
Gleichzeitig handelt es aber auch von jener sonderbaren Intimi¬
tät, die zwischen den drei einander völlig fremden Antagonisten
entsteht. In meinen Augen ist das eine Art säkulares Wunder.
Wie genau es passiert, dass diese drei Antagonisten sich fast
anfangen zu lieben, weif ich noch immer nicht zu sagen — und
ich habe das Buch ja mittlerweile schon ein paar Mal gelesen.
Interaktion zwischen Autoren, Lesern, Ubersetzern und Verlegern.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit Mirjam Pressler?
Mirjam arbeitet schr selbständig, und ich kann kein Deutsch,
weshalb ich ihr auch keine große Hilfe sein konnte. Sicherlich,
ein paar Fragen hat sie mir gestellt, aber eigentlich tauschen
wir uns nicht viel darüber aus. Dieses Verhältnis ist aber nicht
unbedingt typisch. Mit meinem englischen Übersetzer zum
Beispiel arbeite ich schr eng zusammen. Wie dem auch sei,
ich bitte alle Übersetzerinnen und Übersetzer: Übersetzen Sie
den Text nicht wörtlich, um dem Text gerecht zu werden. Ich
denke, die Kunst des Übersetzens handelt von der Suche nach
einem Äquivalent, einem Ausdruck, einer Metapher, die den
gleichen Effekt hat wie das Original.
Sie bitten die Übersetzer also nicht nur darum, gute Leser zu sein,
sondern auch gute Autoren?
Ja, auf eine gewisse Art sind Übersetzer auch Koautoren und
Koautorinnen. Für sie sind meine Bücher Musiknoten, und
sie sind die Musiker, die das Stück zur Aufführung bringen.
Der hebräische Titel des Buches lautet übersetzt „Das Evangelium nach
Judas“. Im Deutschen heifst der Roman aber nur „Judas“. Warum?
Der Grund für den hebräischen Titel ist einfach zu erklären: Wenn
ich das Buch auf Hebräisch „Judas“, also „Jehuda“, genannt
hätte, dann wäre das ein völlig belangloser Titel wie „Shimon“,
„Menasseh“ oder „Levi“. Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden
ein Buch auf Deutsch schreiben und es „Hans“ nennen. Das
wäre vergleichbar mit der Belanglosigkeit des Namens „Jehuda“
für ein hebräisches Publikum. Ich habe darauf bestanden, dass
das Buch in jeder anderen Sprache „Judas“ heißen soll.
In welche Sprachen wird das Buch gerade übersetzt?
In 23 Sprachen! Die wichtigste Übersetzung davon ist die ins
Arabische, die ein kleiner Verlag in Beirut übernommen hat. Der
Verleger ist ein schr mutiger Mann, der bereits „Eine Geschichte
von Liebe und Finsternis“ und „Mein Michael“ übersetzt hat
und dafür auch Todesdrohungen von der Hisbollah erhielt.
Warum ist die Übersetzung ins Arabische am wichtigsten für Sie?
Weil in einer von Hass vergifteten Atmosphäre, die von Stereo¬
typen dominiert wird, die Literatur des Gegners ein wichtiges
Gegenmittel darstellt. Denn diese Literatur zeigt dir, wie schr
das Wohnzimmer, Kinderzimmer und Schlafzimmer deines
Feindes deinem ähneln.
Eine letzte Frage. In Ihrem Buch gibt es zwei — vermeintliche — Ver¬
räterfiguren: Judas Ischariot (der Jesus für einen Messias hält und
darum ans Messer liefert) und Schealtiel Abrabanel (der Ben-Gurion
einen „Messiaskomplex“ vorwirft). Beide „Verräter“ handeln eigent¬
lich aus Liebe und Idealismus, werden dann aber falsch verstanden.
Nun gibt es auch den Autor und politischen Aktivisten Amos Oz,
den Gründer von „Peace Now“ und Verfechter einer israelischen
Linken, die viele Israelis als Verrat bezeichnen. Hat Ihre eigene
Position die Darstellung im Buch beeinflusst?
Ja, sicherlich! Man hat mich in meinem Leben schon sehr, sehr
Das heifst, Sie wussten es noch nicht, als Sie mit dem Schreiben oft einen Verräter genannt. Das erste Mal im britisch regierten
begannen? Jerusalem, als ich achteinhalb war und mich mit einem britischen
Nein, ich wusste wirklich nicht, dass das passieren würde. Sergeant anfreundete. Diese Freundschaft wurde entdeckt, und
Bedeutet das, dass sich die Dynamik zwischen den Figuren bis zu meine Freunde nannten mich einen Verräter. Das letzte Mal
einem gewissen Grad Ihrer Kontrolle entzieht? ereignete es sich während des israelischen Angriffs auf Gaza
Ja, und das ist der Normalfall! Wenn die Charaktere nicht an letzten Sommer. Ich trage diesen Vorwurf als einen Ehrenti¬
einem gewissen Punkt die Kontrolle übernehmen, dann weiß tel. Ich glaube, Schmuel Asch hat etwas dazu zu sagen, wenn
ich, dass ich einen Schwangerschaftsabbruch erleben werde. er erklärt, dass ein Verräter manchmal derjenige sei, der sich
Der Internationale Literaturpreis konzentriert sich nicht nur auf die ändert, während diejenigen, die ihn einen „Verräter“ nennen,
Interaktion zwischen politischen Sphären, sondern auch auf die den Wandel ablehnen oder ihm zumindest sehr misstrauisch