gegenüberstehen. Wenn ich mir die Geschichte anschaue, dann
befinde ich mich mit dieser Zuweisung, ein Verräter zu sein, in
hervorragender Gesellschaft.
Vilem Flusser würde sagen, dass dem Wandel ein Impuls vorausgehen
muss, der von den „Juden“ ausgeht. Könnte ich also sagen, dass Sie
sich als Verräter sehr jüdisch benehmen in einem Land voller Juden?
(Lacht) Nun ja, ich kann meine jüdischen Wurzeln nicht ver¬
leugnen. Ich werde Ihnen die Antwort auf eine Frage geben,
die Sie mir nicht gestellt haben: Es ist nicht nur so, dass ich
Raffaella Passiatore
Italien: Krieg der armen Leute
tief verwurzelt bin in jüdischer Tradition, Geschichte und dem
jüdischen Martyrologium. Ich bin auch der Sohn eines Man¬
nes mit dem Namen Jehuda und der Vater eines Mannes mit
demselben Namen. Mein Sohn Daniel Jehuda Arieli ist nach
meinem Vater benannt. Ich bin der Sohn von Judas und der
Vater von Judas. Dieser Name ist also schr wichtig für mich!
Gespräch und Übersetzung aus dem Englischen: Max Czollek
Nur ein Komiker, Roberto Benigni nämlich, vermochte es an¬
lässlich des 150. Jahrestages der italienischen Einheit, der 2011
in ganz Italien gefeiert wurde, glaubwürdig auf die einstige Vor¬
machtstellung Italiens in Kunst und Kultur hinzuweisen. Um
sich allerdings bewusst daran erinnern zu können, braucht man
ein Gedächtnis. Um in unserer Zeit die sozialen und politischen
Werte, die in der italienischen Nachkriegsverfassung, diesem
„Hauptwerk“, verzeichnet sind, mit Inbrunst vorzutragen, muss
man erst recht ein Komiker sein. Doch um einen solchen zu
verstehen, braucht man ebenfalls ein Gedächtnis.
Manche haben jedoch darauf hingewiesen, dass die erwähnte
italienische Vormachtstellung auch jene war, die den Faschismus
erschaffen, an die Macht gebracht und in die Welt getragen har.
Wenn schon von Erinnerung die Rede ist, dann sollte es die
gesamte, die unverfälschte sein! Sonst wird die unvollständige
Erinnerung zur Manipulation und die verdrängte Erinnerung
zur Dummheit.
Das heutige Italien scheint ausschließlich einer Gegenwart
verpflichtet zu sein, welche die Vergangenheit vergessen hat
und die Zukunft außer Acht lässt. Damit ist die unabwendbare
Wiederholung von Fehlern verbunden, die, indem sie verdrängt
werden, nicht mehr Teil der eigenen Geschichte zu sein scheinen.
Wer aufmerksam und geschichtsbewusst ist, wird zwischen der
heutigen Situation in Italien und jenen entscheidenden Jahren,
in der der Faschismus entstand, zu einer Bewegung heranwuchs
und sich schließlich in ein Regime verwandelte, verblüffende
Parallelen entdecken.
Über den Rassismus in Italien sollte man erst sprechen, wenn man
vorher die Müllhalde unter freiem Himmel geschen hat, zu der
Lampedusa inzwischen geworden ist, oder die Vorstädte, deren
Infrastrukturen — die Grundversorgung und das soziale Leben —
weitestgehend zusammengebrochen und deren Kultur verarmt
ist und die heute nur mehr Schlafstätten für Migranten sind. Der
Bahnhof von Mailand erinnert an eine Zeltstadt für Überlebende
aus den Flüchtlingsbooten: Menschen, die auf Bahnsteigen über¬
nachten, die dort schlafen und essen und sich waschen.
Die historischen Zentren unserer Städte sind zu Anlaufstellen
für unzählige nordafrikanische Drogenhändler und farbige Pro¬
stituierte geworden. In den Notaufnahmen der Spitäler muss
man stundenlang warten, bis man versorgt wird. Die zahlreichen
Notfälle betreffen hauptsächlich Migranten, die sich um einen
Bettelplatz geprügelt hatten: um ein paar Quadratmeter Gehsteig.
Die Kapazitäten der Auffanglager für die im Rahmen der Ope¬
ration „Mare nostrum“ geretteten Migranten sind erschöpft. Die
einheimische Bevölkerung von Lampedusa besitzt nichts mehr,
womit sie ihre Großzügigkeit zeigen könnte. Es gibt keinen Tou¬
rismus mehr, der Fischfang stagniert.
Welchen Sinn hat es, Migranten aufzunehmen, um sie dann
unter menschenunwürdigen Bedingungen leben zu lassen? Wenn
man diesen Menschen keine Arbeit und kein Zuhause geben kann,
kann man dies nur als Anstiftung zu Kriminalität, zu Prostitution
und zu Ausbeutung verstehen. Welchen Sinn hat es, über Europa
zu reden, wenn Italiens Grenzen nicht als europäische Grenzen
angesehen werden?
Italien ist sich selbst überlassen
Die wirtschaftliche und soziale Situation Italiens ist katastrophal.
Fast täglich finden im ganzen Land schwere Proteste und Un¬
ruhen statt. Die meisten Migranten sind in der Landwirtschaft
beschäftigt, doch gerade der geht es zur Zeit besonders schlecht.
Ein Schädling hat die Olivenbäume im Süden des Landes befallen
und sich unaufhaltsam auf der ganzen Halbinsel ausgebreitet.
Im Norden bewirkt die Zerstörung des hydrologischen Gleich¬
gewichts den Verlust von Häusern, Betrieben und Geschäften;
sie ist die große Plage aller landwirtschaftlich genutzten Böden,
darunter auch der Weinberge: dies betrifft Wein und Prosecco,
das Spitzenprodukt unter den italienischen Exportgütern. Die
Klein- und Mittelbetriebe, tragende Säulen der italienischen Wirt¬
schaft, können die ihnen auferlegte Steuerlast von über 70% des
Umsatzes nicht tragen und sperren nach und nach zu.
Auch wenn man das Wenige, das es noch gibt, aufteilen wollte,
dieses „Wenige“ gibt es nicht mehr. Es gilt das, was man zum
Überleben braucht, für sich selbst und die eigene Familie um
jeden Preis zu erhalten. Dies wird als Notwehr angeschen.
Vertreter der Lega Nord sprechen oft von „Lebensraum“, ein
Ausdruck, den sie sicher nicht zufällig verwenden. „Lebensraum“,
daran möchte ich hier erinnern, ist ein von den Nazis geprägter
Begriff. Eine Partei wie die Lega Nord nützt Tatsachen propa¬
gandistisch aus, um daraus rassistische Schlüsse zu ziehen. Die