OCR Output

länger schon nicht mehr in Syrien, wanderte über die USA in
die Niederlande aus und ist beruflich als Musikmanager viel un¬
terwegs. Er gehört übrigens der beachtlichen Minderheit der
syrischen Christen an.
Die beiden Männer tauschen mit mir Telefonnummern aus.
Zwei Wochen später traf ich Herrn M. im Köflacher Kunsthaus
wieder; Mathilde Schwabeneder stellte ihr neues Buch „Auf der
Flucht“ vor, welches sie zusammen mit Karim El Gawhari geschrie¬
ben hat. Die Stadtgemeinde Köflach hatte dazu eingeladen. Nach
der Vorstellung des detailreichen Buches wies ich daraufhin, dass
Flüchtlinge in Österreich nicht allen Landsleuten willkommen
seien und „der Islam“ vielen als Vorwand diene, die Verfolgten als
Gefahr für das „Christliche Abendland“ darzustellen. Am Ende
der Veranstaltung gratulierte mir ein katholischer Geistlicher zu
meiner „mutigen Bemerkung“. Ich antwortete, die Wahrheit zu
sagen sei nicht mutig, sondern notwendig; und in unserem Lande
herrsche im Allgemeinen eine Scheu vor unangenehmen Wahrhei¬
ten. Es ist schon alles sehr verzwickt. Auf der anderen Seite sprach

NEUE TEXTE

mich ein alter Mann an und sagte, er sei auch Flüchtlingskind
gewesen, aus der CSSR nach 1945 nach Kanada gekommen...
Also gibt es doch noch das, was heute Empathie genannt wird.

Inzwischen konnte ich für Herrn M. ein Buch über Libyen
bestellen. Der Asylwerber M. wird es noch nicht lesen können,
vielleicht werden seine Kinder es ihm übersetzen.

Es gibt, erfahre ich nach und nach, einige Menschen im Be¬
zirk, die den beiden mir so zufällig „über den Weg gelaufenen“
Verfolgten helfen; der eine von ihnen schreibt Erzählungen auf
Englisch, die eine mir bekannte Frau ins Deutsche übersetzt.
Vielleicht kann er einmal auch seine Geschichte der Trennung
von seinem Land aufschreiben. Eine andere Frau betreut Frau
M. und die Kinder nachbarschaftlich.

Im genannten Buch steht über Libyen, es sei „singulär“ an
kulturellen und archäologischen Schätzen. Es gibt dort zwar
ziemlich sicher keine Schachtelhalme, aber oberirdisch Palmen.
Vom unterirdischen Öl gar nicht zu sprechen...

Zehra Girak

ICHENDE

Noch am Tropf

Gesetzgegeben

heute herrscht Ausnahmezustand
der setzt ein mit Geheul

mit Vortrittshabacht

und dazugehörigen Wahlverwandten

Lachfalltüren zählen jene ab

die in Trauermienen einklinken

eine Zusammenkunft die mir verlockend
die letzte Träne weg

damit könnte ich noch Botschaften
jedweden Seelenstaates ertränken

Aber ich geh noch nicht fort
das Gesuch betrügen
oder noch weiter von dannen

Was reibt sich da die Hände

was lacht mir so ins Nichts

was ist das was da kitzelt

dass es macht

meine Füße kichern

und meine Gedanken abzappeln

Jemand öffnet eine Schublade
irgendwo knirscht ein Gebiß
es ist wie ein Knarren

Jemand schließt eine Schublade

eine Seelenanzeige schwankt

58 _ ZWISCHENWELT

und fängt zu klopfen an
mit Ungeduld zu tropfen
nun da mein Herz

es aufgegeben

(Aus „Leibesübungen“, Verlag Kiepenheuer&Witsch 2000 )

Umwege

Kürzere maßvolle Jahre leben

um einen langen Tag lang

nichts zu sein

König und Königinnenbettler
Kaiserin und Kaiserfänger

nur um sich selbst ein Enkel zu werden
so schaut das endlich graue Auge
das einmal braun oder blau geblickt
ins Weiße

das ist freude- und fleckenvoll

wie der Himmel noch wiinscheleer
und das ist durchsichtig

wie eine gliickliche Nacht

Nun ist es soweit
auf diesen Wegen
so nah so nah
endlich soweit

(Aus „In Bewegung“, Verlag Hans Schiler 2008 )