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Anna sagte, und dabei lächelte sie noch immer, fremd und
verkrampft: „Aber ich will nicht sterben. Und jedenfalls nicht
wegen einer Moral, wo ich auch noch davontennen darf, wenn's
nicht klappt - also - jedenfalls nicht -— und dabei bist du stolz —.“

Das Licht im Zimmer, das klein geworden war, Hackerte und
wurde wieder groß.

Wolf senkte seinen Kopf und sagte unsicher: „Ich habe meine
Arbeit — und dann kennst du mich auch — und du kennst mich
- ja gut —.“

„Oder nicht —“, sagte Anna. Dabei lächelte sie. „Oder kenn
ich dich nicht?“

Sie stand auf und ging zum Fenster.

Sie lächelte nicht mehr. Ihr Gesicht war ganz weiß, die Schatten
unter den Augen, die bis zu den Wangenknochen liefen, waren
schmal und sehr scharf. Sie lehnte sich an, bis sie im Rücken
den Fensterriegel spürte. Sie hielt sich gewaltsam gerade, hob
die gefalteten Hände wie bittend bis zur Brust und sprach ins
Zimmer hinein — ziemlich leise, aber deutlich:

„Ich habe gewartet und nie eine Forderung gestellt“, sagte sie.
„Und warum? Weil ich dachte, es steht mir nicht zu, dich zu
drängen. Weil ich dachte, du hast deine Arbeit und du weißt
außerdem, wie’s mir geht, und du kommst ohnehin, wenn du
kannst. Und du warst plötzlich da. Ja — weshalb?“

Sie schluckte — und fuhr fort:

„Ich frage! Denn ich habe mich schrecklich geirrt. Und das
ist jetzt mein Pech, ja, ich weiß. Und es ist umso schlimmer.
Du kennst mich nicht mehr und mein Leben nicht mehr und
nicht das, was es ausmacht — ich kann nicht mal verstehen, wie
es kommt. Doch wozu?“

Sie griff hinter sich, suchte mit den Händen die Scheibe.

Wolf saß vorgebeugt und hörte zu.

„Es war mir nicht recht, daß du gar nichts mehr machtest, nach¬
dem du aus der Partei ausgetreten warst. Aber du wolltest Ruhe
für dein Studium haben. Du warst auch verärgert. Ich dachte mir
immer, das bleibt nicht, einmal fängst du von selbst wieder an.
Daß du mit der Partei nichts mehr hattest, war mir damals sehr

Jörg Thunecke
Der mühevolle Weg im Kontext'

Gottfried Erich August Hermann Mayer (Rufname: Götz) wurde
am 11. Dezember 1910 in Wien geboren und starb am 7. April
2001 in Philadelphia. Obwohl „halbjüdischer“ Abstammung
war er dort Mitglied der First Unitarian Church of Philadelphia.
Sein Vater, Arnold Mayer (1863 — 1918), war ebenfalls gebürtiger
Wiener; seine Mutter, Hilde Menzler (? - 1935), hingegen war
nicht jüdisch und stammte aus dem Hessischen. Sigmund Mayer,
Götz Mayers Großvater väterlicherseits, stammte aus Mähren,?
engagierte sich in der Wiener Lokalpolitik und publizierte während
des Ersten Weltkrieges ein Buch über die Wiener Judenschaft.
Nach dem Tode des Vaters zog die Familie 1918 nach Kassel,
Hilde Menzlers Heimatstadt, wo Götz Mitte der 1920er Jahre ein
örtliches Gymnasium besuchte‘ und ca. 1928 das Abitur ablegte.
Danach arbeitete er Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre, bis
zu Hitlers Machtübernahme Ende Januar 1933, als Journalist in
Hamburg. Da er „Halbjude“ war, sah sich Götz Mayer gezwungen,
Deutschland 1934 zu verlassen und nach Frankreich zu emigrieren,

22 _ ZWISCHENWELT

lieb. Abzufahren war vielleicht ein Fehler von mir. Aber leider
war es nötig. Inzwischen hast du den Doktor gemacht — und hast
dein Versprechen gebrochen. Und ich frage dich jetzt, was es auf
sich hat mit dieser Reise und was du überhaupt von mir willst?“

Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern redete gleich weiter:

„Dein Hochmut, bei allen, ist jenseits! Ich respektiere und
entschuldige nicht, was du treibst — und noch weniger das, was
du denkst. Es ist fiir mich ebenso fremd wie abscheulich. Ist das
deutlich genug?“

Er antwortete nicht.

„Du machst mir den Vorschlag, daß ich durchbrennen soll
und mit dir in Amerika leben! Ich würde es schon leichter haben
wollen — aber so nun mal nicht! Ja, was hast du dir da nur gedacht
— hast du gedacht, daß ich so mit dir lebte? Oh, das täte ich nicht
einmal dann, wenn wirklich alles so unsinnig und hoffnungslos
wäre, wie du meinst. Denn so schämte ich mich vor mir selbst!
Denn so sehr muß ich tun, was ich kann — was ich kann! —, um
zu helfen, daß das Recht mal regiert - nicht der Mord! Denn an
mir darf’s nicht liegen - und auf das kommt es an, erst einmal.
Und ich will deine Schlappheit nicht mehr, denn sie ist unerhört
- und ein Hohn. Du kennst unsere Schande, und dann zuckst
du die Achseln. Aber das ist viel schlimmer als Billigung. Und da
rechne du bloß nicht auf mich.“

Sie ließ die Fensterscheibe los, ihre Arme fielen nach vorn. Sie
hingen an ihr, als ob sie nicht zu ihr gehörten.

„Nein —“, sagte sie. „Denn ich mache nicht mit.“

Und nach einer Weile — sie stand unbeweglich —:

„Daß du’s weißt.“

Als sie ins Freie traten, war der Himmel über dem Wald wieder
gefleckt. Der Mond stand hinter den Wolken.

Sie schlossen von außen und schoben den Schlüssel unter der
Haustür hindurch.

Die letzte Metro in die Stadt, die sie am Pont de Sevres erreich¬
ten, war fast leer.

wo er sich in Paris niederließ und dort seine zukünftige Frau, Lu¬
cie Hepner, geb. Kaufmann (*1909 in Berlin), kennenlernte, die
sich dort zu Besuch aus Südafrika aufhielt. Lucie besuchte Götz
danach noch zwei weitere Male (1937 bzw. 1938), und da Götz
nach dem ‚Anschluß‘ Österreichs im Frühjahr 1938 staatenlos
geworden war? und seine Aufenthaltsgenehmigung in Frankreich
nicht verlängert wurde, emigrierte er 1939, nach der Zuteilung
einer ‚Titre de Voyage‘, über Southampton (England) nach Jo¬
hannesburg.° Anschließend lebte und arbeitete er in Südafrika.

Als seine französischen Papiere ungültig wurden, ging er in den
Untergrund, stellte sich jedoch letztendlich den südafrikanischen
Behörden und wurde in einem ‚Segregation Camp‘ in Baviaans¬
poort in der Nähe von Pretoria interniert,’ wo er scheinbar den
vorliegenden Roman konzipierte. Am 26. Januar 1941 emigrierte
er auf dem ägyptischen Dampfer ZamZam, der regelmäßig zwi¬
schen Cape Town und New York verkehrte, weiter in die USA.°