Jedenfalls, wenn sie so abends bei uns gesessen ist, hat sie uns erzählt
von den alten armen Menschen in Wien. Wie, hat sie gesagt, ich höre
es jetzt noch, zwischen drei und vier in der Früh, das war vor dreifßig
Jahren, kriechen diese Leute aus ihren Löchern raus, zwischen drei
und vier in der Früh, wenn keiner noch draußen ist und die gehen
dann in die Halle, die gehen dann zu ihren Plätzen, wo sie etwas
zum Essen finden. Und nachher kriechen sie zurück in ihre Löcher.
Weil sie hat ja in einem Loch gewohnt, ohne Heizung, ohne Licht.
Sie hat ja alles, was sie gehabt hat, immer angehabt. Ich weiß nicht,
wo sie gewohnt hat. Aber der Engelbert [Pöcksteiner], kann ich mich
erinnern, der hat mir gesagt, die wohnt in einem Loch, irgendwo ...
mir hat sie gesagt, da wo sie wohnt, hat sie keine Heizung... irgendwo
in Hernals. Aber dieses Nachtleben von den armen Menschen in Wien,
sie hat gesagt, das kann man sich nicht vorstellen, was da, wie viele
Leute da auf der Strafe sind, die unterwegs sind zu den Stellen, wo
sie wissen, da finden sie etwas."
Sie hat bis an ihr Ende alle Entscheidungen mit ihrem Sohn be¬
sprochen, sich mit ihm beraten. Er hat ihr gesagt: Wenn sie noch
etwas zu erledigen hat, dann wird sie gesund werden und weiterleben.
„ER wird uns nicht mehr auferlegen als wir zu tragen vermögen“,
und um mir das zu sagen, hat sie mir das erzählt; „wer weiß, wozu
es gut war, daß ich Dir das alles erzählt habe“.
Ich habe ihr dann in der Badewanne heißes Wasser eingelassen.
Sie war, ich hab das noch nie leibhaftig gesehen, buchstäblich nur
Haut und Knochen. Ich bin schlafen gegangen. Sie hat aber „dann
nicht mehr gebadet“'‘, hat das schöne warme Wasser genützt, um
ihre Kleider zu waschen; die waren aber in der Früh noch nicht
trocken; ich hab ihr den Wohnungsschlüssel gelassen - sie soll,
wenn die Kleider trocken sind, die Wohnung zusperren und den
Schlüssel unter der Tür hinein schieben, hab meine Tochter in
den Kindergarten geführt und bin in die Arbeit gefahren. Ich hab
sie nicht wieder geschen.
Was geschehen wäre, wenn ich ihr damals gesagt hätte: Bleib da?
Sie hat auf dem Küchentisch einen Zettel hinterlassen: „Es ist
besser nicht mehr nachzudenken worüber wir gesprochen haben
— es hat nützen können - [...] ich will mein Leben nochmals ganz
neu ! anfangen [...] Was ich noch ‚erleben‘ werde ?“
Wie sie ihr weiteres Leben organisiert hat? Ich weiß es nicht.
Ich weiß nicht, wie viele Menschen heute in Wien ohne Papiere,
ohne Krankenversicherung illegal leben.
Ich denke mir, in der Ottakringer Zinskaserne mit ihrer Bil¬
dung, ihrer Herkunft, sie trinkt nicht, sicht nicht fern, da war sie
immer eine Außenseiterin, aber irgendwie integriert. Sie muss ihre
Netzwerke gehabt haben, von denen ich mir keine Vorstellung
machen kann.
Hildegard Goss-Mayr schrieb mir: „Über Frau Anna Frank kann
ich leider nicht viel berichten. Sie schätzte meinen Vater, Kaspar
Mayr, hoch, der nach dem 2. Weltkrieg den Versöhnungsbund,
eine pazifistische Bewegung mit spirituellem Hintergrund, neu
aufbaute. Sie kam regelmäßig zu den Vorträgen des VB.
Da wir damals in der Schottengasse wohnten, wo das Büro des
VB mit unserer eigenen Wohnung verbunden war, saß sie öfter
bei uns in der Wohnküche, als unsere Kinder noch klein waren,
also vor mehr als 50 Jahren. Sie lebte sehr bescheiden, ärmlich
und verfügte über eine tiefe Lebensweisheit, die wohl von vielen
nicht verstanden wurde.“ ”
Ihre Tochter Miriam Gstaltmeier erinnerte sich nur, dass Fr.
Frank manchmal bei ihnen auf Besuch war zum Essen. "®
Norbert Mayr ist Frau Franks Namen „in den schriftlichen
Unterlagen nicht untergekommen. Sie war persönlich präsent,
aber nicht schriftlich.“
„Sie war eine wunderbare stille Beobachterin und hat dann
immer zur richtigen Zeit halt ihre Kommentare abgegeben. Das
werde ich mir immer merken“, sagt Maria Mayr.”
Und die Kleine Schwester Claire Frederique:
Sie war eine Eigenbrötlerin... Also, die Frau, die ist mir unheim¬
lich frei vorgekommen. Auch von der Religion frei. Jedenfalls, sie
war sehr selbstbewusst, sehr. Zu jedem hat sie eine Meinung geben
können, sie war auch kritisch, und ja diese Freiheit, ... froh war
sie, sehr fröhlich, ich hab mir damals schon gedacht, ich war ja jung
damals, na ja, in dem Alter möchte ich auch noch so sein können, so
weise ... so eine Grundhaltung, sie steht über allem, denn es kann
ihr nichts geschehen. Sie kann nichts verlieren. Sonst kann ich mich
nicht viel erinnern...”
Maria Wolf erinnerte sich, dass Frau Frank immer mit einem
Rucksack bei den Tagungen des Versöhnungsbunds war.”
Rotraud Lakmaier-Strobl ist der braune Pelzmantel in Erinne¬
rung geblieben, den Frau Frank immer getragen hat.”
Sie hat, ich weiß nicht wann, Ferdinand Ambichl auf Tonband
gesprochen: über richtige Ernährung, das richtige Leben.
Ich habe noch zwei Briefe in einem Kuvert von ihr bekommen,
Poststempel 1976 -11- 22, Absender: „A. Frank, Wien 16, Herbst¬
str.21/42 Zur Zeit jetzt“. Da schreibt sie, datiert am 31. Okt 76:
„»... Ich verstehe Dich gut weil ich mich bei allem ganz in
Deine Lage hinein denke...“ Jetzt, vierzig Jahre später, verstehe
ich (glaube ich zu verstehen), was sie gemeint hat: beide jung ver¬
witwet, beide mit einem kleinen Kind ... Sie war, trotz meinem
Einwand, dass es auch gute Hexen gibt, besorgt, meine Tochter
könnte sie für eine böse alte Hexe halten und sich vor ihr fürchten.
Sie schreibt: „Es ist noch vieles andere besser [als das Caritas¬
Heim]: z.B. ich kehre zurück wo mein Mann u ich den Landbesitz
hatten u mich die Leute wollen [...] Also bitte: Fragen über mein
weiteres Leben — an mich selbst zu stellen — ich werde es dann
genau schriftlich beantworten“ und: „... bitte es wäre gut wenn
Du mir darüber Fragen stellst, ich werde dann alle Deine Fragen
genau klären“”* — das habe ich damals versäumt.
Ein Brief von mir „Liebe Frau Frank! Ich bin beunruhigt, so lange
nichts von Dir zu hören“ an die angegebene Adresse, Poststempel
18.2.1978, ist retour gekommen mit dem Vermerk „Epf Anna
Frank 16. Herbstst. 21/42 verstorben.“
Am 1.1.1978 starb in Wien im Kaiserin-Elisabeth-Spital eine
Anna Frank, geb. 13.8.1893 in Amstetten”, ledig, o.B., Todesur¬
sache: Haemorrhagia massiva cerebri. OA Dr. Baumgartner KES.”°
Laut elektronischer Gräbersuche https://www.wien.gv.at/gra¬
bauskunft/internet/suche.aspx wurde eine Anna Frank am 17.1.
1978 auf dem Baumgartner Friedhof, Gruppe V Reihe 17, Num¬
mer 7 begraben.”
Ihr Hinterlassenschaftsakt Nr. 1 A 53/78 liegt im Bezirksgericht
Hernals. Lt. Auskunft der Rechtspflegerin Ingrid Bauer: keine
Erben, Akteneinsicht nicht gewährt (100 Jahre gesperrt).
Ob sie alles erledigt hat, was sie noch vorgehabt hat?
„Das Wichtigste ist es halt nach der Überzeugung leben.“
Ihr war, glaube ich, schr wichtig zu zeigen, dass der Mensch,
der sich richtig ernährt und in seinem Rhytmus lebt, geistig und