lesen, als „großes und bizarres Missverstandnis““° seitens Domins,
was Engagement bedeute.
„Sie sehen, wir haben Grund dankbar zu sein“, so schreibt
Domin, da ist schon das Vereinnahmende, die Konstruktion eines
Wir, wo Sachs dieses als Frage stellt - und Dank als Obszönität
seitens Domins, wenn man irgendetwas verstanden hat. Domin
schreibt davon, daß „die Menschen anrufbar sind““, was Sachs
nicht bezweifelt, bloß: wovon, das ist die Frage. Und das sicht
Nelly Sachs, hier eben anders als im Leben, wo sie „vielleicht zu
zart, zu sensibel“® sei, wie sie selbst konzediert, sensibel im Sinne
einer Hellsichtigkeit. Als Wir bleibt ihr folglich jenseits des Kon¬
strukts die Begegnung, das Sprechen und Schreiben, dann aber
das, was als die zunächst heteronom scheinende Bestimmung der
Dichterin - sie als Jüdin — durch die Sprache dies umzuschreiben
sie nötigt, und zwar ohne Verrat an der erzwungenen Solidarge¬
meinschaft, die wenigstens bleibt: Jüdin, aber aber nicht so, wie
es die Machtsprache der Nazis behauptet. Trotz aller „Probleme“,
die er mit seinem „„Jüdischsein“ habe“, so sagt ähnlich Derrida,
werde er „es dennoch niemals leugnen“: „In bestimmten Situa¬
tionen werde ich immer ‚wir Juden‘ sagen.“
Dennoch: Sprache — und so gesehen jüdisches Sprechen - liest
hier der Sprache eine Verheißung ab, und zwar ist es jene, daß
Sprache noch verheifsen könne, nicht aber man, daß Sprache im
Bezeugen nicht in Intention aufgehe und diese verrate, daß also
Wahrheit ist— und daß, wo gegen diese Wahrheit die Verheißung
proklamiert werden soll, sich die Sprache sperrt, wider das Kalkül,
das eine nicht mehr sprachliche Hoffnung meinend oder aber
aufs Moment der Wahrheit verzichtend sichtbar falsch würde;
oder etwas, das noch nicht einmal falsch ist.
Wer so schriebe, klänge „psychopathologisch“”', weil er es isz,
frei nach Ruth Klügers Nelly Sachs-Interpretation, die, vor 20
Jahren erschienen, noch immer zu den besten Analysen zählt;
aber dies ist Risiko wie Chance der aus allem, was sei, exilierten
Dichterin, deren Exil eben hieraus ins Universelle dringt. In der
Tradition des Alten Bundes klagt sie, als ließe Gott diese Klage
zu, er als die Sprache: als wäre der „erzählende [...] Mythos schon
die Theodizee in nuce“””, so Hans Blumenberg. — Insofern ist mit
Lehmann zu sehen, daß Nelly Sachs die „dekonstruktive Verar¬
beitung vieler Felder der religiösen Tradition“” betreibt; aber: als
quasi-religiöse Praxis, als letzte Dennoch-Liturgie, die auch Celan
nachgesagt werden könnte, als Paradoxon, weil Dekonstruktion
zugleich per se wenigstens schräg zur Religion steht, was Celan
bei Nelly Sachs deutlich vernimmt.‘* Es ist ein Dennoch-Credo
aus dem Exil:
„Was man nicht wahrhaben will, ist — letzten Endes — die Dich¬
tung. Aber es gibt sie, quia absurdum...“”
Die Dichtung, die sagen kann — und sich versagen kann, auch
bei ihm, der Nelly Sachs schreibt, was ihr bestimmt sein mag:
Falsche Sterne überfliegen uns — gewijs; aber das Staubkorn, durch¬
schmerzt von Ihrer Stimme, beschreibt die unendliche Bahn.”
Diese Passage, die auf dem Umweg über die Technisierung des
Seins - falsche Sterne bezieht sich auf die beginnenden Sputnik¬
Missionen — einem Absoluten immerhin wieder zustrebt, und sei’s
dem der Dekonstruktion, schöpft aus dem Zweifel Kraft: Es geht
um die Irritation, den Zweifel, die Sprache der Wahrheit, wobei
Wahrheit Frage ist; freilich nicht im Sinne der Scheußlichkeiten
alter wie neuer Nazis, die sich noch einmal an den Überleben¬
den versündigten, indem sie derlei aufgreifend die Skrupel des
oder der Gedenkenden zum Vorwurf an die Zeugen pervertier¬
ten, ob es denn nicht erst durch dieses Memorieren der — Zitat!
— „genießenden Überlebenden“ singulär gewesen sei, was daan
Verbrechen geschehen ist. Gegen diese Stimmen und diese Zweifel,
die nie Zweifel waren, schreibt auch Lyotard sie aufgreifend und
ihre Form eben als immanente Lüge zeigend: „Als Toter kann man
nicht bezeugen, daß man in einer Gaskammer umgekommen
ist.“ — Hernach ist bei Nelly Sachs Sprache Autobiographie als
gefährdete Nekrographie für andere.
Dagegen ginge es um die Frage, wie man, was unbezeugt fast
schon nicht ist, so bezeugen könne, daß es dennoch absolut sei
— wie Sprache dies tun könne. Wie kann man von Auschwitz so
sprechen, daß es nie im Zeugen ganz ausgesagt sein wird?”
In diesem Leiden gehört sie der Sprache, das bedeutet fast:
hierin „gehören wir nur noch Gott“, wie sie schreibt. Nelly
Sachs zweifelt an allem, auch an Gott, aber mit geradezu seiner
Stimme, es ist eine Dekonstruktion und Parodie, was entsteht,
zugleich religiös, wenn sie schreibt: Zi beispielsweise ist — Bild um
Bild — ein Mysterienspiel, wie Celans Psalm Gott dekonstruiert,
mit dessen Formenkanon:
Und ich habe sie gebrannt,
und ich habe Rauch gegessen,
[J
und ich habe nicht sterben können,
weil ich der Tod bin",
so stellt sich hier Gottes Schöpfung vor, sie als ihr Skandal, ein
Skandal des Sterbens und dessen, wie gestorben wurde: zu Rauch
werdend, wie schon zitiert wurde.
O die Schornsteine
Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,
Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch [...]°
Der (Juden-)Stern, die Hoffnung, geschwärzt, in einer Sprache,
die zu klären versucht, nicht zu verklären, und zwar als Frage
und nicht als Antwort - die Klärung käme ihr zu; doch kommt
sie...? — Theologisch ist eben dieses Warten darin. Das Warten
wird zum Mystik-Substrat, Warten als Aussetzen, als Frageraum,
als Sprachfindung: eine Mystik der Verstörtheit, worin so etwas
wie das vernehmlich ist, was die Theologie erhofft, aber in einer
Weise, die die Theologie nicht heil beläßt, oder jedenfalls nicht
unverändert.
In diesem Moment ist Nelly Sachs, so beschreibt es Leonard
Olschner, „zu mystischen Erfahrungen prädisponiert“®, vielleicht
also im Sinne Adornos: „Mystik ist das enfant terrible“* der Re¬
ligion, ist ihre und allgemein die Heimsuchung....
Dem begegnet sie - und also auch die Poesie Sachs‘ — aufgrund
und mit und in der Sprache. Sprache trägt ein „Zuviel“ zu, ein
„Zuwenig““, eine Ahnung nämlich der Haltlosigkeit, diese aber
stellt alles in Frage und damit den Menschen vor Entscheidun¬
gen, wobei er wisse: Wir/ wissen ja nicht, weist du,/ wir! wissen ja
nicht,/ was/ gilt, eine verdächtig diskontinuierliche Ephiphanie
durch Celans Zeilenbrüche, eine Heimsuchung durch Warten,
durch Text, durch Mystik im Sinne einer „paradoxen Einheit von
Theologie und Atheismus“, wie es in den Noten zur Literatur
Adorno formuliert.
Das zeichnet Sachs aus, ähnlich, aber ins Politisch-Säkulare
gewendet Celan, beispielsweise in der quasi- oder paratheologi¬
schen, mystischen Erfahrung:
Die Posaunenstelle
tief im glühenden