LC: Ich habe Anitaerst nach unserer Veranstaltung kennengelernt,
bei einer Verlagspräsentation in Konstanz. Wir haben über
verschiedene Dinge gesprochen, ohne uns auszufragen. Wir
haben uns erzählt, was wir uns im Moment erzählen wollten.
Und das macht Margit auch beim Schreiben so, daß sie keine
in sich geschlossenen Erinnerungsbücher schreibt.
MK: Und durch das Schreiben tauchen bei ihr immer neue Erinne¬
rungen auf. Durch ihre Bücher hat sie neue Leute kennengelernt
oder Menschen wiedergefunden, die sich auch an das Leben in
Czernowitz erinnern, aber natürlich anders erinnern.
LC: Es zieht Kreise.
MK: Es ist ein Kreislauf von Erinnerungen, die wiederkommen
und die sich verändern durch die Erzählungen der anderen.
Ich habe das Gefühl, daß die Erinnerung an Czernowitz, aber
auch an Sibirien nicht nur in ihren Alltag hineinragt, sondern
ein Teil davon ist.
LC: Ich habe auch das Gefühl, sie ist sehr bei sich.
MK: Und das hat etwas damit zu tun, wie sie sich erinnert.
LC: Sie ist mit 17 aus ihrer Welt herausgerissen worden — wahr¬
scheinlich lernt man das, mit seiner Erinnerungswelt allein zu
sein, in dieser Isolation, in Gefangenschaft.
MK: Dabei darf man nicht ihre Mutter vergessen. Man darf nicht
diese Genealogie der Frauen übersehen: die Großmutter, die
Habe ich wirklich erlebt, was ich glaube erlebt zu haben? Sibirien,
Wahnsinn und Todesangst, Verfolgung, Verachtung und Hohn. Wie
habe ich nur standhalten können? Jahre tödlichen Hungers und der
Kälte. Diese Frage stellen mir ungezählte Menschen, Freunde, die
mich nach 50 Jahren wiedererkennen, Menschen, die meine Kurz¬
geschichten gelesen haben, aber — auch ich selbst. Ja, wie konnte ich
nur durchhalten? Ein junges jüdisches Mädchen aus Czernowitz, das,
plötzlich aus dem Wohlstand herausgerissen, sich mit seiner Familie
in solch extremen Situationen befand? Anscheinend war es die Gabe,
sich niemals dem Selbstmitleid hinzugeben, und ein immer wieder
und wieder mich belebender Sinn für Humor.
Margit Bartfeld-Feller: Dennoch Mensch geblieben — Erinne¬
rungen an die sibirische Verbannung. In: Cecile Cordon, Helmut
Kusdat (Hg.): An der Zeiten Ränder. Czernowitz und die Buko¬
wina. Geschichte, Literatur, Verfolgung, Exil. Wien 2002, S. 199.
Am 26. November 2019 verstarb im Alter von 96 Jahren die
Schriftstellerin und Theodor-Kramer-Preisträgerin Margit Bartfeld¬
Feller in Tel Aviv.
Margit Bartfeld wurde 1923 in Czernowitz geboren. 1941 wur¬
de die Familie von den Sowjets nach Sibirien deportiert, wo der
Vater nach wenigen Monaten den Hungertod starb. Nach 1945
verbesserte sich die Lebenssituation, 1948 folgte die Heirat mit
dem Architekten Kurt Feller. Bartfeld-Feller arbeitete dreißig
Jahre als Musiklehrerin in Tomsk. 1990 emigrierte sie mit ihrer
Tochter Anita nach Israel, Tel Aviv wurde ihre neue Heimatstadt.
In Israel begann sie zu schreiben, und zwar auf Deutsch. Schrei¬
bend beschwörte sie die versunkene Welt ihrer Heimatstadt Czer¬
nowitz herauf und legte Zeugnis ab über das Leben der Verbannten
in Sibirien. 2013 erhielt sie zusammen mit Manfred Wieninger
den Iheodor Kramer Preis für Schreiben im Widerstand und
Exil. In der Preisbegründung heißt es:
Mutter, die Tochter — das ist sehr schön: Mama Cilly, Margit,
Anita.
Nachsatz Lucas Cejpek: Anfang 2015 war ich wegen der israelischen
Erstaufführung von Margrets Stück Dankbare Frauen an der Uni¬
versität Tel Aviv (Regie: Anna Minajev) wieder in Tel Aviv. Am
25. Jänner habe ich zum ersten Mal Margit und Anita in ihren
Wohnungen besucht, die einen Halbstock übereinander liegen,
im Parterre ist die Wohnung von Anita und ihrem Mann - die
beiden Söhne haben längst eigene Familien — und Margit wohnt
ein paar Stufen höher allein mit ihren Erinnerungen: Bilder und
Bücher und Gegenstände überall, und dazwischen Margit, die
ständig in Bewegung ist.
Lucas Cejpek, geb. 1956 in Wien, aufgewachsen in Graz, lebt als
freier Schriftsteller, Theater- und Hörspielregisseur in Wien. Studium
der Germanistik und Anglistik in Graz. Verfasser von Essays, Romanen,
Konzept- und Gesprächsbüchern.
Margret Kreidl, geb. 1964 in Salzburg, freie Schriftstellerin in Wien,
schreibt Theaterstücke, Hörspiele, Prosa und Lyrik. Aufführungen u.a.
in Graz, Wien, Berlin, Amsterdam, Marseille, Tel Aviv. 2018 erhielt
sie den Outstanding Artist Award für Literatur.
Die fortdauernde Bedeutung von Margit Bartfeld-Fellers Schriften
geht wohl auf zwei verschiedene Quellen zurück:
Erstens die Zeugenschaft der nunmehr neunzigjährigen Autorin für
zwei untergegangene Welten: das jüdisch-bürgerliche Czernowitz der
Zwischenkriegszeit, mit der österreichisch gefärbten deutschen Um¬
gangssprache, und das sowjetisch beherrschte Sibirien, einschließlich der
letzten zwölf Stalin-Jahre. Aus dem tiefen Schacht ihres Gedächtnisses
gräbt sie immer neue Episoden überraschender Menschlichkeit und
Splitter des Glücks hervor, ohne das Schlimme, das ihr widerfuhr,
zu beschönigen.
Zweitens verleiht die Abwesenheit von Bitterkeit und Hass ihrem
Schreiben eine besondere Note. „Dennoch Mensch geblieben“ — der
Titel ihres ersten Buches bezeugt ihre Persönlichkeit, begabt für Freund¬
schaft und Hilfsbereitschaft.
Margit Bartfeld-Feller. Foto: Helmut Kusdat, Tel Aviv 2019