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Konstantin Kaiser

Versuch des Verstehens

Irene Spiegel, 2004 in Wien 94jährig verstorben, hateine Erinnerung
an ihre Jahre im Spanischen Bürgerkrieg und die Resistance-Zeitin
Frankreich geschrieben. Mit der Niederschrift hat sie erst schr spät
begonnen. Die Entstehungszeit ließ sich bisher nicht genau ermit¬
teln. Frühestens in den 1990er Jahren hatsiewohl damit begonnen;
vermutlich überschneidet sich der Zeitraum der Niederschrift mit
dem Zeitraum, in dem Erich Hackl, aufden Spuren Harry Spiegels,
eine Reihe von Interviews mit ihr führte. In dem letzten dieser
Interviews sagt sie, sie habe 1968 — ausgerechnet 1968! — mit dem
Rauchen aufgehört, und das sei nun 35 Jahre her. Das müßte also,
sofern sie nicht auf- oder abgerundet hatte, im Jahre 2003, nicht
lange vor ihrem Tod, gewesen sein.

Die Zeit der Niederschrift zu kennen, ist in der Auseinanderset¬
zung mit autobiographischen Texten von großer Bedeutung. Der
Historiker mag vielleicht dem kurzfristig nach einer Folge von
Ereignissen abgelegten Zeugnis Beteiligter oder Betroffener einen
potentiell höheren Wahrheitsgehalt zugestehen, doch ist dies eine
Wahrheit über die Ereignisse, die sie erhellt, und weniger über
die Person, die die Aussage macht. Zudem sind diese kurzfristig
abgelegten Zeugnisse, sofern überhaupt vorhanden, oft noch ganz
in die Ereignisse verstrickt: Sie klagen an und rechtfertigen eigenes
Verhalten und der Gruppe, der der Zeuge angehörte oder angehört.
Solche Zeugnisse müssen nicht unbedingt die äußere Form eines
Berichts haben, sie können sogar aus ganz bestimmten Gründen
als Roman konzipiert sein. So schrieb z.B. Maximilian Reich den
Bericht „Die Mörderschule“ über seine Gefangenschaft in den KZs
Dachau und Buchenwald in romanhafter Form, weil er glaubte,
damit eher Aufmerksamkeit und Anteilnahme zu erreichen. Er
schrieb ihn, im Oktober 1938 aus dem KZ Buchenwald entlassen,
gleich nach seiner Emigration nach England im November 1938
im Eiltempo, doch blieb diese Aufklärung über die Zustände im
Deutschen Reich damals ungedruckt, daman, was Reich geschrieben
hatte, in England noch für „Greuelpropaganda“ hielt.!

Autobiographisches entsteht in der Regel in zeitlichem Abstand
zu den Geschehnissen, die man als die Schliisselereignisse einer Bio¬
graphie anschen könnte, wobeiallerdings die Erscheinungsjahre der
Publikationen meist nur bedingt Auskunft über die Entstehungszeit
geben.” Oft wird Autobiographisches erst abgefaßt, wenn sich das
Leben dem Ende zuneigt. Beim autobiographischen Schreiben
verweisen die dem Ich-Erzähler zugeschriebenen Handlungen,
Gefühle, Erlebnisse primär nicht mehr auf einen Ausschnitt des
allgemeinen Geschehens wie im Zeugenbericht, sondern auf ein
konkretes Subjekt und erst sckundär durch dieses hindurch wie¬
der auf das Leben und die Kämpfe der Epoche. Damit gewinnen
autobiographische Texte eine literarische Dimension; man liest sie,
um ein Wort Friedrich Schillers zu bemühen, mit dem Herzen der
Erzählerin oder des Erzählers.?

Mit dem zeitlichen Abstand zu den Schlüsselereignissen des eige¬
nen Lebenslaufes verändern sich auch die Perspektiven. Vielleicht
hätte Irene Spiegel zu einem früheren Zeitpunkt die Distanzierung
vom Kader-Kommunismus nichtan verschiedenen Stellen in ihrem
Manuskript angedeutet. So erzählt sie von einem André Marti, der
nach dem Zusammenbruch der Spanischen Republik in Frankreich
nichts besseres zu tun hat, als einen völlig erschöpften spanischen

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Chauffeur chauvinistisch zurechtzuweisen; von dem unsinnigen
Befehl, bei der Flucht aus Spanien alle persönliche Habe zurück¬
zulassen, um Platz auf den Lastwägen für vielleicht noch Mitzu¬
nehmende zu belassen (welche aber dann nicht mehr angetroffen
werden); oder davon, daß die „Leitung“ in Frankreich das Opfer
eines Radioapparates fordert, der dann unbenützt irgendwo auf
dem Boden herumsteht.

Das sind freilich eher zarte Distanzierungen, wenn man etwa
daran denkt, was einem André Marti mit Recht noch alles nach¬
gesagt wird—von mutwillig angeordneten Exekutionen bis hin zur
mörderischen Intrige gegen Manfred Stern, der als General Emilio
Kleber‘ mit der XI. Internationalen Brigade im November 1936
wesentlich zur Verteidigung Madrids gegen die Putschisten beige¬
tragen hatte. Die Zurückhaltung Spiegels istaberauch dem Respekt
geschuldet, den sie für jene österreichischen Kommunisten hegt,
die sie als Mitkämpfer in der Resistance erlebt hat. Eine Kritik, die
ihre Anstrengungen und Opfer im nachhinein für sinnlos erklärt,
war Spiegel vollkommen fern und fremd.

Irene Spiegels Erinnerungen bestehen aus zweigroßen Teilen: dem
Teilüber den Kampf gegen den Faschismus in Spanien 1937-1939
mit einer kurzen Vorgeschichte, und dem Teil über ihre Widerstand¬
stätigkeit und ihr Überleben in Frankreich 1939-1947 mit einer
kurzen Nachgeschichte. Im Spanien-Teil bewegt sie sich im Rahmen
des Servicio Sanitario (bei ihr immer französisch „Service Sanitaire“)
der Brigadas Internacionales in einer englisch-amerikanischen Um¬
gebung, arbeitet in den amerikanischen und englischen Spitälern
und Verbandsplätzen, umgeben von englischsprachigen Kollegin¬
nen und Kollegen.’ Zwischen dieser zwar nicht undurchlässigen,
aber diffus immer präsenten englisch-amerikanischen Blase und
dem politischen und administrativen Apparat der Internationalen
Brigaden besteht eine gewisse Distanz; dem Leser drängt sich die
Vermutung auf, unter den Englischsprachigen sei es etwas unver¬
krampfter, lockerer, weniger hierarchisch zugegangen als in anderen
Bereichen. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, daß Spiegelan
mehreren Stellen Probleme der Organisation von Frontspitälern
erörtert, was daraufhindeutet, daß sie selber, nicht Ärztin, sondern
‚bloß‘ ausgebildete Krankenschwester, in einschlägige Diskussionen
mit einbezogen war oder gar als Verantwortliche angesehen wurde.

Die Spannung zwischen sturem Gehorsam in der Ausführung
der Befehle und zweckmäßiger Erfüllung von Aufträgen muss
schon in der Zeit des Spanischen Bürgerkrieges selbst gegenwärtig
gewesen sein. Jedenfalls lernt sie in dem von dem englischen Arzt
Alexander Tudor-Hart‘ geleiteten Frontspital in Mataré im August
1938 den gleichaltrigen österreichischen Philosophiestudenten
Harry Spiegel kennen:

Einer meiner Patienten war mein künftiger Ehemann Harry. Er
war dreifach verwundet. Eine Maschinengewehrgarbe hatte ihn von
rechts an Stirn, Arm und Bein getroffen. Die Wunden verheilten gut,
allerdings konnte er wegen der Beinverletzung nicht richtiggehen. Dr.
Tudor Hart wollte ihn operieren, aber Harry entschied, damit noch
zu warten. So gab ihm der gute Dr. Hart ein Paar Schuhe, wie sie die
Holzfaller tragen; damit konnte er ganz gut laufen. Wir heirateten am
8. September 1938. Der Bürgermeister von Matarö nahm die Trauung
vor. Am selben Abend veranstalteten einige der Ärzte aus Deutschland,