Österreich und anderen Ländern eine wunderbare Feier für uns. Jeder
brachte etwas zu essen mit. Ich steuerte Schokolade bei, Dr. Karner’,
der mit einer spanischen Krankenschwester verheiratet war, eine gro¬
‚fe, köstliche Melone, wieder andere brachten Fleischkonserven — mit
anderen Worten, es war ein richtiges Hochzeitsmahl.
Harry Spiegel war zwar Politkommissar eines Bataillons der
Internationalen Brigaden, scheint aber die Begeisterung für die
Sache sehr wohl mit der stetigen Bereitschaft, ein wenig von der
Parteidisziplin abzuweichen, mit dem Mut, eine unsinige Order
auch zu mißachten und zu improvisieren, verbunden zu haben.
Vielleicht daraus ergibt sich das Bild einer „outstanding persona¬
lity“, einer „Charismatik“, wovon Irene Spiegel im Interview mit
Worin bestand die sozusagen strategische Perspektive von Irene
Spiegels Schreiben? Zum einen bedeutet diese „Episode“, Juni 1937
bis 1947, also die zehn Jahre im Servicio Sanitario der Brigadas
Internacionales, im Travail Anti-Allemand, im Untergrund und
auf der Flucht, in der Flüchtlingshilfe der Unitarier in Marseille,
den entscheidenden Relais in ihrem Leben. War sie vorher eine
linksorientierte, gewerkschaftlich organisierte Krankenschwester
in New York gewesen, lebte sie danach im Beziehungs- und Spann¬
nungsgeflechtösterreichischer KommunistInnen in Wien, beschäftigt
in der unter sowjetischer Verwaltung stehenden Akumulatoren¬
Fabrik in Wien-Liesing. 1955, nach dem Staatsvertrag von Wien
und der Rückstellung des Betriebes an österreichische Eigentümer
entlassen, teilte sie das Schicksal der kommunistischen Bewegung
in Österreich, ohne ihr wirklich in einem dynamischen, aktiven
Sinne anzugehören. Ihren Lebensunterhalt konnte sie mit der stillen
Arbeit des Übersetzens bestreiten.?
Zum anderen stellt das Schreiben von Erinnerungen gerade über
die Periode 1937-1945 einen trotzigen Akt der Vergegenwärtigung
dar, der sich gegen die Vorstellung richtet, dies alles gehöre einer
längstabgeschlossenen, „abgekapselten“ Vergangenheitan. Für Irene
Spiegel-Goldin sind der Spanische Bürgerkrieg und die Resistance
Metropolen menschlicher Geschichte, keine abgelegenen Dörfer
des Erinnerns oder vorübergehende Episoden. In dieser Auffassung
wird sie durch das zunehmende Interesse einer neuen Generation
von US-amerikanischen und österreichischen ForscherInnen und
PublizistInnen an der Thematik in den ausgehenden 1990er Jahren
bestärkt.! Und sie reklamiert energisch, aber ohne sich aufzuplustern
den Anteil, den sie an den historischen Ereignissen genommen hat.
In ihrer Erinnerungsarbeitfühltsich Irene Spiegel größter Ehrlichkeit
verpflichtet, verschweigt aber eine Liebesbeziehung, die sie vor der
Begegnung mit dem verletzten Harry Spiegel im Spitalvon Matarö
1938 unterhielt.'' Das Heraufholen, Heraufbeschwören von Erin¬
nerungen ist immer auch mit einer erneuten Verdrangungsleistung,
man möchte es in diesem Fall eher aktualisierte Zensur nennen,
verbunden. Ihre Aufrichtigkeit demonstriert Spiegel dadurch,
daß sie die großen Gefahren ihrer Einsätze nahe der Frontlinie,
die enormen Strapazen nicht extra, ihr Heldentum betonend,
herausstreicht, sondern cher sachlich die damaligen Erörterungen
referiert, welche Formen der medizinischen Betreuung der frisch
Verwundeten zweckmäßig und notwendig seien. An einer Stelle
weiß sie sich eines medizinischen Erfolges zu rühmen, der augen¬
scheinlich allein ihrer Umsicht zu danken war:
Einer unserer Patienten war ein Franzose, der in einem Auto mit
Benzintank gefahren war. Der Tank war von einer Handgranate ge¬
troffen worden und hatte Feuer gefangen. Zwei Drittel seines Körpers
waren von schweren Brandwunden überzogen. Unglücklicherweise
hatte der Sanitäter an der Front die Wunden mit Vaseline behandelt
in der Hoffnung, damit die wahnsinnigen Schmerzen zu lindern. Als
der Franzose bei uns eintraf, waren seine Wunden bereits infiziert. Ich
brauchte mehr alseine Stunde, um die Vaseline zu entfernen, und dann
legte ich ihm einen Verband an und befeuchtete den Verbandsmull
mit einer Gerbsäurelösung. Ein oder zweimalam Tag wechselten wir
seinen Verband. Das bereitete ihm enisetzliche Schmerzen, so dass wir
beschlossen, ihm den Verband lieber zu lassen und diesen so feucht wie
möglich zu halten. Wir gaben ihm möglichst viel zu trinken und eine
Menge von den starken französischen Zigaretten, die wir Panzerfaust¬
Zigaretten nannten. Sie schienen wie ein Beruhigungsmittelzu wirken.
Zu unserer Überraschung erholte sich der Mann.
Irene Spiegel verschweigt nicht ihre Ängstlichkeit und Verletz¬
barkeit. Wie in einem rasenden Tanz wird sie in den 20 Monaten
ihres Einsatzes an die verschiedensten Kriegsschauplätze geführt.
Von Albacete nach Grafen, von da nach Fuentes de Ebro, Villa
Paz, S’Agard, Brunete, Huete, Benicassim, Cuevas del Ebro, und
zum Schluß, im Februar 1939, nach La Jonquera an der Grenze zu
Frankreich. Dem Leser schwindelt bei diesem Tanz an die wechseln¬
den Fronten des Krieges, und manchmal scheint auch in Spiegels
Manuskript die Reihenfolge der Einsätze in Unordnung geraten.
Nun sind aber kleine Inseln des Friedens in das kriegerische
Geschehen gebettet, wenn diese Alltäglichkeiten auch immer mit
Schwierigkeiten verbunden sind, etwa mit dem Problem, völlig
erschöpft an einem neuen Einsatzort angekommen, irgendeinen
Platz zum Schlafen zu finden. Oder die Frage der Verpflegung —
hier erfährt man von Spiegel schr viel von dieser Seite des Alltags
des Krieges, auch von der Unordnung und Ungerechtigkeit, die da
zuweilen herrschten. Genüßlich wird der Inhalt von Care-Paketen,
die die Erzählerin selbst und mit ihr Zusammenarbeitendeerreichen,
vor dem Leser ausgebreitet und die Weiterverteilung unter dem
medizinischen Personal geschildert. Diese Passagen stellen zugleich
Atempausen dar, die sich die Erzählerin gönnt.
Die Erinnerungen Irene Spiegels sind in englischer Sprache abgefaßt,
was weder selbstverständlich noch ohne Bedeutung ist, und liegen
in einer deutschen Übersetzung von Robert Fallenstein vor, die die
Grundlage der vorgesehenen Publikation in deutscher Sprache ist.
Peter Spiegel, der 1941 in Frankreich geborene Sohn von Irene
und Harry Spiegel, teilte mir, Konstantin Kaiser, mündlich mit,
Irene habe sich zu allererst eine Veröffentlichung im englischen
Sprachraum gewünscht. Dementsprechend erwähnt sie auch viele
der US-amerikanischen Ärzte, Schwestern und Funktionäre, die
im Rahmen der Abraham-Lincoln-Brigade tätig waren. Eine sol¬
che englischsprachige Veröffentlichung ist bisher nicht zustande
gekommen.
Der andere, für mich wesentlichere Aspekt ist, daß Spiegel ihre
Erinnerungen nach über 40jährigem Leben in Wien, also in einer
im allgemeinen deutschsprachigen Umgebung, ganz bewußt auf
Englisch niederschreibt. Das beruht selbstredend auf ihrer spezi¬
ellen Sprachkompetenz; des Deutschen war sie — die Interviews
mit Erich Hackl belegen es - nicht im gleichen Ausmaß mächtig.
Aber das Englische trennt sie auch von dem Gedröhne all dessen,
was rund um sie herum auf Deutsch abgehandelt wird, es löst ihr
Schreiben von ihrem weiteren Leben in Österreich, auch von den
Menschen, mit denen sie in Österreich verbunden ist. Es ist eine
große Einsamkeit, die darin anklingt, eine Einsamkeit, in der Irene
Spiegel die „Metropolen der menschlichen Geschichte“, die alten
Gefährten und Freundinnen wieder besucht.