den Kultusgemeinden registriert waren; fast die
Hälfte davon wurde in der Shoa ermordet —
Überlebende wurden in Fluchtländer über die
ganze Welt verstreut.
Nach der Befreiung kehrte von den Überle¬
benden fast niemand in die früheren Wohnorte
zurück; vereinzelt wurden aber Verbindungen
zu jenen Menschen wieder aufgenommen, die
sich 1938 von ihren verfolgten Nachbarn nicht
abgewendet haben - solche seltenen Freund¬
schaften werden in den Familien auch von
nachkommenden Generationen weitergeführt.
Die Berichte über gutes Zusammenleben und
die Integration in den dörflichen Alltag können
nur einen oberflächlichen Eindruck abbilden.
Der Anspruch der Dorfgemeinschaft, „mitein¬
ander auskommen zu müssen“, wirkte vor 1938
auf die Entladung antisemitischer Ressentiments
durch offene Aggressionsakte bremsend. Die
NS-Machtergreifung brach alle Hemmungen.
Das Gefühl, von der Nachbarschaft ausgeschlos¬
sen, allein gelassen, angefeindet und verfolgt
zu werden, erzeugte einen nachhaltigen Bruch.
Vor diesem Hintergrund war nach 1945 eine
Rückkehr in die Tätergesellschaft lediglich dort
Auslöser für eine genauere Auseinandersetzung
mit der Geschichte von als „asozial“ stigmatisier¬
ten Frauen war für die Politikwissenschafterin¬
nen Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr und
Elke Rajal vom Institut für Konfliktforschung in
Wien eine im Jahr 2015 am Jüdischen Institut
für Erwachsenenbildung gezeigte Wanderaus¬
stellung zum „Jugendschutzlager“ Uckermark.
Dort wurden währende des Nationalsozialismus
vor allem als „asozial“ kategorisierte junge Frau¬
en interniert, während erwachsene „Asoziale“
im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück
gefangen waren. In den beiden Lagern gab es
auch 176 Osterreicherinnen.
Eine Grundlage für die Untersuchung war
die am Institut für Konfliktforschung erstellte
Studie „Namentliche Erfassung der ehemals in¬
haftierten Österreicherinnen in Ravensbrück
inklusive seiner Nebenlager und dem KZ
Uckermark“.! Weiters erforschten die Autor¬
Innen auch die Geschichten jener Frauen, die
in Zwangseinrichtungen wie in Arbeitsanstalten,
Psychiatrie, Arbeitserziehungslager und Erzie¬
hungsheimen landeten. Analysiert wurden dabei
individuelle Verfolgungsverläufe der Frauen und
Mädchen anhand konkreter „Fallbeispiele“, aber
insbesondere das Agieren der Behörden und
Einrichtungen im Kontext des nationalsozia¬
listischen Terrors.
‘Themenschwerpunkte der Studie sind:
— die Einrichtungen fiir Frauen in der
„Asozialen“-Verfolgung in Österreich, insbe¬
sondere in den Gauen Wien und Niederdonau;
— „Asoziale Frauen“ in den Konzentrationsla¬
gern Ravensbrück und Uckermark;
— Kontinuitäten und der Umgang mit den
Opfern in der Nachkriegszeit.
In einem Merkblatt aus Wien mit dem Titel
„Wer ist asozial?“ vom Dezember 1940 heißt es:
1. wer infolge verbrecherischer, staatsfeindlicher
und querulatorischer Neigungen fortgesetzt mit
dem Strafgesetz, der Polizei und anderen Behörden
in Konflikt gerät — oder
2. arbeitsscheu ist [...]
3. wer den Unterhalt für sich und seine Familie
laufend den Wohlfahrtseinrichtungen des Staates,
der Gemeinde oder der Partei (auch N.S.V. oder
W.H.W.) aufzubürden versucht.
4. wer unwirtschaftlich und hemmungslos ist,
wem es an eigenem Verantwortungsbewusstsein
fehlt, wer kein geordnetes Familienleben und kei¬
nen ordentlichen Haushalt zu führen und seine
Kinder nicht zu brauchbaren Volksgenossen zu
erziehen vermag.
5. Trinker [...], Strassendirnen [...] Zuhälter.
Die asoziale (gemeinschaftsunfähige) Familie
hat sehr häufig eine hohe Kinderzahl. Diese Kin¬
der sind oft ein buntes Durcheinander uneheli¬
cher, vorehelicher, aufserehelicher und ehelicher
Abkunfi. [...P
Diese Beschreibung macht bereits deutlich,
wie sehr der Begriff der „Asozialität“ nicht nur
mit bestimmten Ordnungsvorstellungen, son¬
dern auch mit geschlechterspezifischen Vor¬
stellungen von Frauen, Männern und Famili¬
en verbunden war. Während in der Verfolgung
von Juden und Jüdinnen, Sinti und Roma sog.
„Fremdrassige“ „ausgemerzt“ werden sollten,
handelte es sich bei den sog. „Asozialen“ meist
um Angehörige der „Volksgemeinschaft“ — es
ging dabei also um den „Feind im Inneren“?
Bekämpft wurden mit dieser Kategorisierung
u.a. widerspenstige Arme, Unangepasste, Ver¬
wahrloste, AlkoholikerInnen, Kleinkriminelle,
Geschlechtskranke, Homosexuelle und Pros¬
tituierte, wobei gegenüber den Beschuldigten
oft mehrere Vorwürfe zugleich formuliert
wurden. Dies beschrieb Angela H. Mayer, eine
Pionierin in der Erforschung der Geschichte
des Frauenstrafvollzugs und „asozialer“ Frauen
in Österreich, bereits in den 1980er Jahren am
Beispiel des Umgangs mit lesbischen Frauen.‘
Einen „liderlichen Lebenswandel“, „sexuelle
Triebhaftigkeit“, „sittliche Gefährdung“ sowie
ein „hemmungsloser Fortpflanzungstrieb“ waren
Vorwürfe, die insbesondere Frauen trafen.
Ein Österreichspezifikum war die Schaf¬
fung sog. „Asozialen-Kommissionen“. Deren
Aufgabe war die Ausfindigmachung und In¬
ternierung von „Asozialen“ in geschlossenen
Einrichtungen. Dabei arbeiteten Gesundheits¬
amt, Wohlfahrtsamt und Einrichtungen der
NS-Wohlfahrt, die Gemeinde, das Arbeitsamt,
Kriminalpolizei und GESTAPO eng zusam¬
men. Im Jahr 1941 wurden von der „Asozia¬
lenkommission“ allein in Wien 779 Anträge
auf Einweisung gestellt. 83 davon betrafen
erträglich, wo man in der Anonymität der Gro߬
stadt weiterleben konnte. An das jüdische Leben
am Land können aber nur noch Bücher wie Eine
versunkene Welt erinnern, die den vertriebenen
und ermordeten Menschen der Buckligen Welt
und des Wechsellandes Namen und Gesichter
geben.
Heimo Gruber
Johann Hagenhofer, Gert Dressel, Werner Sulz¬
gruber: Eine versunkene Welt. Jüdisches Leben in
der Region Bucklige Welt— Wechselland. Berndorf:
Kral-Verlag 2019. 288 S. € 29,90
Frauen. Zwischen April 42 bis März 43 waren
es bereits 138 Frauen. Bei 119 war der Ein¬
weisungsgrund „Geheimprostitution“, in 115
Fällen „Arbeitsscheu“. Weitere Vorwürfe waren
„Vagabondage“, „Verwahrlosung“, „Bettelei“,
„Irunksucht“. Die meisten Frauen waren arm,
zwischen 18 und 30 Jahren alt, ledig und ga¬
ben als häufigste Berufe „Hilfsarbeiterin“ oder
„Dienstmädchen“ an.
Die Frauen kamen u.a. mit einer (unterstell¬
ten) psychiatrischen Diagnose nach Steinhof,
wo neben der Psychiatrischen Klinik und der
„Wiener Städtischen Jugendfürsorgeanstalt
Am Spiegelgrund“ auch eine „Arbeitsanstalt für
Frauen“ existierte. Außerdem gab es in Klos¬
terneuburg bei Wien eine „Heil- und Arbeits¬
anstalt“ für Frauen, die bereits auf ein in der
Habsburgermonarchie von katholischen Frau¬
en errichtetes und von Ordensfrauen geführtes
Heim für „gefallene“ und geschlechtskranke
Madchen zuriickging.* Weitere Einweisungsorte
für die Frauen und Mädchen waren die „Gau¬
erziehungsanstalt“ Gleink in Oberösterreich,
zuvor ein „Seraphisches Liebeswerk“ — und eine
„Zwangs- und Besserungsanstalt“ für Frauen
in Znaim. In den Anstalten herrschten Zwang,
Gewalt und totale Kontrolle. Jene Frauen, die
als „Asoziale“ ins KZ kamen hatten dort eine,
wie die Autorinnen feststellten, im Vergleich
zur Gesamtgruppe deutlich höhere Todesrate.
Und jene Frauen und Mädchen, die den Krieg
überlebten, wurden in der Nachkriegszeit nicht
selten in den gleichen Institutionen wiederum
als „lügnerisch“, „psychopathisch“, „arbeits¬
scheu“ und „kriminell“ bezeichnet und ihre
Bemühungen um eine „Entschädigung“ mit
dem Vokabular aus der NS-Zeit abgeschmettert.
Nur sehr wenige Frauen nahmen daher den
Kampf mit den Behörden auf und beantrag¬
ten einen Opferausweis, der Voraussetzung für
den Erhalt einer Haftentschädigung und einer
Opfer- bzw. Unterhaltsrente war. Die Autorin¬
nen fanden nur 27 Anträge von als „asozial“
verfolgten Frauen. Bis zum Jahr 2005 waren als
„asozial“ verfolgte Personen von den Leistungen
der Opferfürsorge ausgeschlossen.
Elisabeth Malleier