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Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr, Elke Rajal:
„Arbeitsscheu und moralisch verkommen“. Die
Verfolgung von Frauen als „Asozial“ im Natio¬
nalsozialismus. Wien: Mandelbaum 2019. 378
S. € 29,¬

Anmerkungen

1 Die Datenbank enthält die Namen von 2.450
weiblichen und 300 männlichen Inhaftierten und
ist abrufbar unter: http://www.ravensbrueckerin¬

nen.at
2 [Hervorhebungen i. O.], hier S. 372.

Kanon im Exil

Caroline Jessen hat sich bis 2011 im Rahmen
eines Promotionsstipendiums am Franz Rosen¬
zweig Minerva Forschungszentrum der Heb¬
räischen Universität mit Büchersammlungen
deutsch-jüdischer Einwanderer in Israel befasst.
Sie publizierte darüber auch 2013 im Tel Aviver
Jahrbuch für deutsche Geschichte.

Ihre These im Buch Kanon im Exil lautet,
dass der deutsche Kanon nach der Emigration
vielfach präsent blieb, „als Weltliteratur“. In der
Einleitung formuliert sie allerdings ein trauriges
Fazit: Für „die meisten Bücher aus Emigranten¬
sammlungen“ gibt es in Israel „keinen Ort und
keine Leser mehr“.

Jessens Buch beschreibt die „Lesebiografien“
von fünf Autoren:

— Paul Miihsam (1876 — 1960), Rechtsanwalt
in Görlitz, über den Jessen auch im Metzler Le¬
xikon der deutsch-jüdischen Literatur (2. Auflage
2012) einen Beitrag schrieb;

— Josef Kastein (1890 — 1946), Rechtsanwalt
in Bremen, ab 1927 Schriftsteller in Ascona;

—Schalom Ben-Chorin (1913 — 1999), Religi¬
onswissenschaftler und Journalist aus Miinchen,
hieß bis 1937 Fritz Rosenthal; seine Bibliothek
befindet sich heute im Miinchner Stadtarchiv.

— Werner Kraft (1896 - 1991), Bibliothekar in
Hannover, Literaturwissenschaftler und Schrift¬
steller. Für dieses Kapitel hat Jessen Krafts Kor¬
respondenz mit Hans Paeschke (1911 — 1991),
dem langjährigen Chefredakteur der Zeitschrift
Merkur, die in Marbach archiviert ist, eingese¬
hen. Paeschke, der von 1939 bis 1944 Chefre¬
dakteur der Zeitschrift Die Neue Rundschau war,

3 Sehr anschaulich beschreibt den „Kampf gegen
den Feind im Inneren“ am Beispiel des faschis¬
tischen Italien: Peloso, Paolo F.: Psychiatrie und
Faschismus in Italien. „Follia Antifascista“ und der
„Krieg im Inneren“. In: E. Malleier, M. Messner:
Agnes, Ida, Max und die anderen. NS-“Euthanasie“
und Siidtirol. Meran 2018, S. 31-42.

4 Angela H. Mayer: „Unglückselige sinnliche
Freundschaften“ und „gleichgeschlechtliche Um¬
triebe“. In: An.schläge 1988, Heft 10, S. 13-15.
Dies.: „Asoziale Elemente und jüdisches Blut“.
In: [sic!] Forum für Feministische GangArten.
Wien 1993/0, S. 12f. und [sic!], 1994/3, S. 10f.
Dies.: „Schwachsinn höheren Grades“. Zur Ver¬
folgung lesbischer Frauen in Österreich während
der NS-Zeit. In: B. Jellonek, R. Lautmann (Hg.):

wollte von Kraft 1971 ein „Wort über Israel“
und fragte: „Warum schweigen Sie über diese
Frage so beharrlich?“ Er verstand nicht, dass
Kraft sich als deutscher Dichter sah und kein
politischer Publizist sein wollte. 1961 hatte
Kraft an Paeschke geschrieben, dass er Gertrud
Kolmar „bei aller Ehrfurcht vor dem Unglück
nicht für eine große Dichterin“ halte und „von
Nelly Sachs halte ich gar nichts“. Zu Krafts Eh¬
renrettung sei jedoch erwähnt, dass er später
in dem Buch Wahrheitsfetzen. Aufzeichnungen
1894-1987 diese harschen Urteile zurücknahm,
worauf auch Jessen hinweist.

— Ernst Loewy (1920 — 2002), Bibliothekar,
Exilforscher und 1984 erster Vorsitzender der
Gesellschaft für Exilforschung e.V., Vater des
Direktors des Jüdischen Museums Hohenems
und des 2012 verstorbenen Filmhistorikers
Ronny Loewy.

Ernst Loewy fand in Palästina in dem späteren
DDR-Dichter Louis Fürnberg einen Mentor.
Seinen Aufsatz „Ihomas Mann und das deut¬
sche Bürgertum“ publizierte er 1947 in Willy
Verkaufs Zeitschrift Erbe und Zukunft und als
Sonderdruck; allerdings erschien der Text irr¬
tümlich unter dem Namen Paul Loewy. Seine
Pläne, in den fünfziger Jahren in die DDR zu
gehen, scheiterten. 1957 ging die Familie nach
Frankfurt am Main; Loewy wurde wegen sei¬
ner Hebräischkenntnisse, aber ohne fachliche
Ausbildung Leiter der Judaica-Abteilung der
Universitätsbibliothek. Er fühlte sich irgendwie
missbraucht und als „Berufsjude“. Jessen zitiert
auch einen Brief an Anneliese Lerski, in dem

Magnus Hirschfeld (1868 — 1935) wuchs in
Kolberg in Pommern auf. Sein Vater, der Arzt
Hermann Hirschfeld, war Stadtverordneter und
Vorsitzender der jüdischen Gemeinde. Die Stadt
errichtete ihm ein Denkmal, das 1933 zerstört
wurde.

Hirschfeld studierte Medizin und arbeitete als
Facharzt für Nervenkrankheiten. Mithilfe seiner
Familie gründete er 1919 in Berlin das Institut

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für Sexualwissenschaft, das vier internationale
Tagungen in Berlin, Kopenhagen, London und
Wien organisierte. Er gab die Zeitschrift für Se¬
xualwissenschaft heraus; mit zwei redaktionellen
Mitarbeitern, Friedrich Samuel Krauss aus Wien
und Hermann Rohleder aus Leipzig. Eine seiner
Hauptthesen war, dass Homosexualitat keine
Krankheit ist.

Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle.
Verdrängt und ungesühnt. Paderborn 2002, S. 83¬
93. Zu den in Wien nach dem „Anschluss“ nach
$ 129Ib („Unzucht zwischen Personen gleichen
Geschlechts“) angezeigten Frauen siehe: Claudia
Schoppmann: Verbotene Verhältnisse. Frauenliebe
1938-1945. Berlin 1999.

5 Siehe u.a.: K.J. Jusek: Auf der Suche nach der
Verlorenen. Die Prostitutionsdebatten im Wien
der Jahrhundertwende. Wien 1994.

6 Zu den Einrichtungen früher katholischer und
liberaler Kinderschutzvereine siehe: E. Malleier:
„Kinderschutz“ und „Kinderrettung“. Vereine zum
Schutz misshandelter Kinder im 19. und frühen
20. Jahrhundert. Innsbruck u.a. 2014.

er schreibt: „Und hier muss ich schließlich als
‚Fachmann‘ für die Dinge herhalten, mit denen
ich mich freiwillig kaum je beschäftigt und für
die ich nie sonderliches Interesse aufgebracht
habe.“

Kanon im Exil ist die gekürzte Fassung von
Jessens Dissertation, die sie 2015 an der Uni¬
versität Bonn, betreut von Jürgen Fohrmann,
einreichte. Zweitbetreuer war Joachim Schlör.

Jessen hat eine literatur- und kulturgeschicht¬
lich detailreich und genau recherchierte Studie
vorgelegt, in der man an manchen Stellen aller¬
dings historische Kontextualisierungen vermisst.
Der Personenindex ist leider nicht vollständig.

Von 2011 bis 2019 war Jessen Mitarbeiterin
am Deutschen Literaturarchiv in Marbach, wo
sie das Projekt „Iraces of German-Jewish His¬
tory“ in Israel koordinierte. Ihr zweites Projekt
in Marbach betraf Autorenbibliotheken. Ein Er¬
gebnis dieses Projekts ist ihr Buch Der Sammler
Karl Wolfskehl, das 2018 im Suhrkamp Verlag
erschien.

Seit 2019 leitet Caroline Jessen am Lehrstuhl
für Deutsch-jüdische Literatur- und Kulturge¬
schichte, Exil und Migration von Kerstin Schoor
an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt
an der Oder die Chiellino-Forschungsstelle für
Literatur und Migration.

EA.

Caroline Jessen: Kanon im Exil. Lektüren deutsch¬
Jüdischer Emigranten in Palästinallsrael. Göttin¬
gen: Wallstein 2019. 398 S. € 22,¬

Im Mai 1933 wurde das Institut von den
Nationalsozialisten gepliindert, seine Biicher
wurden verbrannt. Hirschfeld befand sich auf
einer Weltreise und kehre nicht mehr nach
Berlin zuriick. Im Mai 1934 sprach Hirschfeld
neben Egon Erwin Kisch und Alfred Kerr bei
der Eröffnung der Pariser Freiheitsbibliothek.