In einer Zeit, in der ein falsches Wort, ein schiefes Sprachbild
genügt, um ins Ghetto, in Quarantäne, in den Vorhof der Ver¬
achtung geschickt zu werden, ist es umso wichtiger, sich diese
Freiheit zu nehmen.
Mit Professor Böhme durch seine Ausstellungen zu gehen, ist
für mich jedes Mal ein Erlebnis, jedes Mal habe ich den Eindruck,
es handele sich um eine Familienausstellung und die Verbin¬
dungen zwischen den Bildern und den Malerinnen und Malern
müssen nicht durch räumliche Nähe gekennzeichnet sein. Es
ist ein Netz an Bezügen und Hinweisen, das zum Nachdenken,
zum Recherchieren anspornt. Die Anordnung der Kunstwerke
in den Ausstellungen ist etwas Besonderes, hier werden für einige
Monate Nachbarschaften geschaffen, bei denen die Malerinnen
und Maler vielleicht miteinander ins Gespräch kommen. Vieles
bleibt offen und von Beginn an war für mich klar, nicht nach den
persönlichen Bezügen des Sammlers zu fragen, nicht danach, was
ihn antreibt, gerade nach diesen Künstlerinnen und Künstlern zu
suchen und sie wieder ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen.
Es ist noch nicht Zeit danach zu fragen, es ist noch zu früh und
noch zu schmerzlich. Die Sammlung erzählt die Geschichte.
Zum Beispiel die drei Gemälde von Horst Strempel. Bislang
besaß Professor Böhme zwei Bilder der Pogrom-Serie, jetzt finden
sich drei an der Wand. Das letzte zu bekommen war nicht mehr
so einfach, aber er hat es geschafft.
Nach dem Erscheinen des Katalogs „Wir haben uns lange nicht
geschen. Kunst der verlorenen Generation. Sammlung Böhme“
(Hirmer Verlag), erhielt ich wieder einen Anruf des Professors,
eine Einladung zu einem Besuch in der neuen Ausstellung, es
gebe da eine Geschichte, die ihn nicht loslasse.
An einem schwülheißen Tag Mitte August besuchen meine
Frau und ich den Professor in seinem zweiten Wohnzimmer, im
Museum in der Sigmund-Haffner-Gasse. Das Bild, um das es geht,
hängt im letzten Raum. Dieses Bild habe auch „Der Standard“
für einen kurzen Bericht gebracht, freut sich Professor Böhme.
Von hier aus blickt der Besucher auf das bewegte Treiben auf dem
Universitätsplatz: Blumenstände, Brezelstuben, Festspielgäste und
Touristen. Das Gemälde hängt in der Ecke und - ist es Zufall
oder kalkulierte Inszenierung? — die Blicke der Figuren auf den
anderen Bildern sind von ihm abgewandt. Das Bild zeigt einen
Geiger. Daneben hängt das Damenbildnis von Erich Waske, auf
der anderen Seite die junge Frau mit Zöpfen von Martha Bernstein
und auf der Kommode steht die Tänzerin von Ottilie Johanna
Wollmann, die in Auschwitz ermordet wurde. Alle drei Frauen
wenden den Blick von diesem Geiger ab. Keiner schaut hin und
keiner weiß daher etwas. Ein Zufall? Dort, wo der Geiger vielleicht
gespielt hat, waren Frauen nur in der Vorstellung erlaubt. Denn
entstanden ist das Bild in einem NS-Kriegsgefangenenlager, das
Stalag XVIILC in St. Johann im Pongau. Professor Böhme hat es
von einem Sammler in einem Paket mit anderen Bildern erworben,
leider sei der Sammler verstorben und so könne er nicht mehr
nach den Begleitumständen fragen, woher dieses Bild stamme,
wie es in seinen Besitz gelangt sei. Gemeinsam mit diesem Bild
erwarb Professor Böhme auch einige Ölgemälde von Hein Steiauf,
einem Beckmann-Schüler, von dem selbst das Städelmuseum in
Frankfurt nur einige Zeichnungen besitzt. Zwei Frauen und ein
Bahnschranken in einer winterlichen Landschaft flankieren drei
weitere zentrale Gemälde von Steiauf.
Selten geben die Gemälde einen Hinweis auf die brutale Re¬
alität, schr oft sind es Mutmaßungen, die uns auf die Spur der
Verfolgung und der Ängste führen, wie zum Beispiel bei Heinrich
Ehmsen. Die Augen in seinem Gemälde verunsichern. Es zeigt die
jüdische Dichterin Charlotte Wohlmuth, die Ehmsen mehrmals
porträtiert hat. Die befreundete Dichterin wurde deportiert, das
letzte Lebenszeichen stammt vom Juni 1942. Die Biographie des
Malers gibt einige Hinweise, zuerst in Moskau, dann von der
Gestapo verhaftet und vieles ist bis heute nicht ermittelt.
Die Gemälde von Steiauf geben weniger Rätsel auf. Ein Kind
blickt durch ein Aquarium und sicht eine andere Welt. Wer die
Ausstellung in Salzburg besucht, sieht dann lange Zeit Verdrängtes,
denn Steiauf malte auch Folterkeller.
Und unter diesen Bildern von Steiauf befand sich auch das Bild
des Geigers, entstanden im Stalag, im Stammlager. Der Samm¬
ler hat sich vielleicht etwas dabei gedacht, genau dieses Paket
anzubieten, und der Instinkt hat Professor Böhme bestärkt, alle
Bilder zu erstehen, ohne genau zu wissen, welche Geschichte sich
dahinter auftun möge.
Der Geiger hängt in der Ecke und niemand hört sein Spiel und
niemand kennt sein Schicksal, den schnauzbärtigen Mann umgibt
eine sonderbare Einsamkeit. Es gibt nicht viele Gemälde von dieser
Qualität, die in einem Kriegsgefangenenlager entstanden sind.
Jetzt geht es darum, die Geschichte des Malers zu recherchieren:
Jean Paul Gazier.
Dies nicht zu tun wäre, als hätten die Nazis doch gesiegt. Es
muss doch auch nach Jahrzehnten noch möglich sein, Hinweise
auf den Maler dieses Bildes zu bekommen.
n Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort und habe einen
Auftrag: Die Geschichte jener zu erzählen, die niemand schen
wollte, von denen vielleicht auch niemand wusste. Der Maler Jean
Paul Gazier hat vielleicht nur dieses eine Bild gemalt, vielleicht
auch mehrere, doch dieses Bild ist etwas Besonderes. Es hängt
fernab des Trubels in Salzburg im kleinen Museum der „Verlorenen
Generation“, ganz still ist das Spiel, nein unhörbar ist es, diese
Geige spielt nicht, noch nicht. Aber mit der Unterstützung von
Freundinnen und Freunden, von Leserinnen und Lesern, von
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Archiven und auch mit
Hilfe von Zufällen werden wir diese Geige zum Klingen bringen,
und sie wird die Geschichte von Jean Paul Gazier erzählen, das
habe ich Professor Böhme versprochen.
Die Arbeit der Geschichtswerkstatt Pongau, die vor einigen
Jahren begonnen hat, die Geschichte des vergessenen Kriegs¬
gefangenenlagers zu erforschen, ist eine große Hilfe. So gibt es
zumindest Eckdaten und ein Gedenken vor Ort. Die größte
Gruppe der Kriegsgefangenen bildeten während des gesamten
Krieges die Franzosen mit knapp 10.000 Mann, sie arbeiteten
als Zwangsarbeiter auch in Kaprun und in Industriebetrieben in
Tirol. Die Franzosen konnten während ihrer Gefangenschaft auch
ihren religiösen und kulturellen Bedürfnissen nachgehen. Ganz
anders war die Situation für die sowjetischen Kriegsgefangenen.
Von den 2.700 sowjetischen Gefangenen des Dezember 1941
lebten im Sommer 1942 nur mehr 500, mehr als 3.600 wurden
außerhalb des Friedhofes in einem Massengrab verscharrt.
Kurz nach Beginn der Recherche die Vermutung, dass Jean Paul
Gazier den Krieg überlebt haben dürfte. Auf der Liste der in Haft
verstorbenen Gefangenen, die Mag. Annemarie Zierlinger von der
Geschichtswerkstatt vorliegt, scheint er nicht auf. Der Historiker
Mag. Michael Mooslechner meldete sich mit der Entdeckung,
dass sich in einer im Lager erschienenen Zeitung ein Hinweis auf
eine Wanderausstellung befindet, bei der auch Jean Paul Gaziers
Bilder in Lyon gezeigt wurden.