„Fährtenlesen“. von Peter Sommerfeld
Gleichsam eine Fußnote zu den Schwerpunktnum¬
mern der ZW Mai 2016 und September 2020,
“Exil und Widerstand in Frankreich”
Ich könnte mit Anne Beaumanoir begin¬
nen, die im vergangenen Jahr durch das von
Anne Weber verfasste He/dinnenepos bekannt
geworden ist, eine Maquisarde, die ebenfalls
in der Resistance gekämpft hat. Oder mit
Francis Curel, der aus dem Süden Frank¬
reichs in das KZ Mauthausen verschleppt
wurde und überlebt hat. Aber das führte zu
weit ins Dickicht des Maquis, “die kriechend
ihre Renitenz auswächst”. Curel, der Sohn
eines Kommunisten und Schleusenwärters,
kam nämlich aus derselben Kleinstadt im
Süden Frankreichs wie die Person, um die
der Roman von Peter Sommerfeld angelegt
ist: René Char, Dichter und Widerstands¬
kämpfer.
Zum Verständnis des Folgenden ein paar
Fakten: 1907 in L/Isle-sur-la-Sorgue im
Departement Vaucluse geboren, sind Hand¬
werker, Landstreicher, Zirkusartisten und
Schausteller die Gefährten und Bezugs¬
personen seiner Jugend (sein Vater stirbt
als er zehn ist). Sie, die er später als “les
matineaux”, als “die Transparenten” be¬
nennen wird, nomadisierende Figuren, die
trotz einer erschütternden Erfahrung oder
Niederlage bereit sind, weiterzuwandern,
unterrichten ihn als erste über das Leben
im Freien und Ungewissen. Als 22-Jähriger
bricht er nach Paris auf und schließt sich
der surrealistischen Bewegung an, die er
1937 wieder verlässt. 1939 einberufen, geht
er 1940 in den Untergrund und kämpft mit
einer Gruppe von Männern in der Provence
gegen die deutsche Besatzung. Das Leben
im Maquis, festgehalten auf 500 Seiten, ver¬
wandelt Char in die Prosa Fenzllets d’Hypnos,
die 1946 von Albert Camus veröffentlicht
und von Paul Celan 1959 ins Deutsche über¬
tragen wird.
René Char war von hunenhafter Statur,
dennoch ein sensibler und genauer Beob¬
achter. Den Wesen und Formen der Natur
näherte er sich im Bewusstsein einer fra¬
gilen Spannung zwischen den Elementen.
Seine Gedichte, so abstrakt sie auch beim
Erstlesen erscheinen mögen, zeugen zu¬
gleich von einer Gegenständlichkeit, aus der
eine tiefe, seit seiner Kindheit wachsenden,
durch die Jahre im Maquis intensivierte Ver¬
bundenheit zur Region seiner Geburt und
deren Aromen spricht.
Im Roman Fährtenlesen von Peter Sommer¬
feld, der 1996 mit der essayistischen Erzäh¬
lung Landnahme. Vier Versuche über eine Geopo¬
litiek debütierte, begibt sich ein Paar, Mann
und Frau, in die einstige Heimat des Poeten
und Partisanen, um, wie der Titel schon
sagt, Spurensuche zu betreiben. Mit dem
umfangreichen lyrischen Werk Chars im
Gepäck und mit viel Wissen um biographi¬
sche Details ausgestattet, versuchen sie, ihm
und seiner Dichtung in der Landschaft sei¬
ner Jugend und seines Widerstands um eine
Spur noch näher zu kommen. Manchmal ist
es ja tatsächlich so, dass sich das Werk ei¬
nes Schriftstellers an jenem Ort, an dem es
entstanden ist, beim Wiederlesen verändert,
oder dass es gelingt, ihm eine erfrischend
neue Intensität abzugewinnen.
Das Umfeld des Romans ist 4 maquis, die
undurchdringliche, dornige für Mittelmeer¬
länder typische Buschvegetation: Über die
Jahrhunderte hielten sich in ihr Gesetzlose
versteckt, doch zur Zeit der deutschen Be¬
satzung Frankreichs wurde der Begriff das
Synonym für die Partisanenbewegung. Die
Form “Roman” gibt dem Autor die Mög¬
lichkeit, die Annäherung an den Dichter,
die man als Hommage bezeichnen darf, we¬
sentlich anders anzugehen als in einem Es¬
say. Schon die Anreise und die Anmietung
eines aus Stein gebauten Hauses bekommen
durch den ambitionierten Sprachgebrauch
eine besondere Bedeutung. Es liegt von An¬
fang an ein Hauch von Geheimnis in den
Sätzen, etwas Unbestimmt-Ahnungsvolles
schwingt stets mit. Nahezu jedes Kapitel
ändert den Blickwinkel, den Ort oder die
Zeit des Geschehens. Die Leserin wird zum
Fährtenlesen mitgenommen, auf eine erleb¬
nisreiche Reise, die durch Schluchten führt
und vorüber an Abgründen, auch menschli¬
cher Art, und immer wieder zur Poesie Rene
Chars zurückkehtt.
Auf der Suche nach dem “Maison Rene
Char” in der Geburtsstadt des Dichters müs¬
sen sie gleich einmal erkennen, dass daraus
ein Kunstmuseum wurde, das eine Schau
zur Geschichte der Fotografie ausgerichtet
hat. Der politische Rechtsruck in der Pro¬
vence, das Erstarken der Front National hat
möglicherweise zu einer Namensänderung
geführt; das Haus nennt sich nun Campredon
Centre dart. Die Sammlung zum Dichter hat
die Witwe Marie-Claude Char bereits we¬
nige Jahre nach Eröffnung des Hauses, die
2003 erfolgte, und offensichtlich kurz vor
dem Eintreffen der Spurensucher aus dem
Norden, wieder abgezogen. Die Kommune
habe die Verabredung gebrochen, dass näm¬
lich Präsentationen eine Beziehung zu Werk
und Leben ihres 1987 verstorbenen Mannes
herstellen sollten. Nach Ausstellungen über
befreundete Autoren und Künstler wie Paul
Eluard, Albert Camus, Alberto Giacometti,
Mirö, Picasso etc. wurden Dinge gezeigt,
die mit dem Poeten, Surrealisten, Résistan¬
ce-Kämpfer und dem Maquis nichts zu tun
hatten.
Die Frau an der Kassa gibt vor, den Namen
Rene Char noch nie gehört zu haben. Sie
fühlt sich düpiert, belehrt von Nichtfran¬
zosen, die auf ein Schild mit dem Namen
“Alexandre” verweisen, das sich noch im
Foyer befindet: Oberhalb ein leerer Fleck,
heller als die Mauerfärbung der Umgebung,
denn hier hing ein Porträt von Char, der
im Widerstand “Capitaine Alexandre” ge¬
nannt wurde. Im ersten Stock finden sie
in einem abgelegenen Zimmer noch Res¬
te der Schau zu Chars 100. Geburtstag im
Jahre 2007. Geschrieben ist dieses Kapitel
aus der Perspektive der Frau an der Kassa,
deren Bewusst- und Unterbewusstsein noch
länger mit den Poesie-Touristen beschäftigt
ist, zumal sie mit diesen später noch einmal
zusammentrifft, und es schließlich so weit
kommt, dass sie gemeinsam das Grab des
Poeten aufsuchen wollen.
Die inneren Monologe, die den Roman
auszeichnen, zeigen das Gespür des Autors
Sommerfeld, der im Brotberuf als Thera¬
peut arbeitet, für die Psychologie der Per¬
sonen. Der Aufenthalt der beiden nimmt
einige Wendungen, äußerlich, im Sinne
einer “Handlung” geschieht nicht viel, Ge¬
schautes und Gedanken fokussieren immer
wieder Leben und Werk von Char.
Wie Sommerfeld den alten Backer ein Er¬
lebnis seiner Kindheit erzählen lässt, in
Etappen, wie dieser als Kind auf eine Pla¬
tane geklettert das Eindringen einer Ein¬
heit der deutschen Wehrmacht in sein
Heimatdorf schildert, ist ein Meisterwerk
an Entwicklungspsychologie und Veran¬
schaulichung. Der Erzähler erinnert sich,
wie der Alltag von Familien, die auf Seiten
des Widerstands lebten, verstörend oder rät¬
selhaft auf Kinder gewirkt habe. Sie durf¬
ten von der politischen Position der Eltern
nichts wissen, denn es sei vorgekommen,
dass auch Kinder von der SS oder Angehö¬
rigen der Wehrmacht gefoltert wurden, um
Informationen zu bekommen. “Und dann
die Kollaborateure. Bei manchen Leuten im
Dorf hätte man nicht gewusst, auf welcher
Seite sie stünden. Das Zusammenleben im
Dorf sei von Geheimnissen und Abgrün¬
den durchwebt, ja geradezu durchdrungen
gewesen. Schweigen war wichtiger als das
Gespräch.”
In einer historischen Rückblende kommt der
Nachtflug eines britischen Piloten ins Spiel.
An einer genau gekennzeichneten Stelle und
verdeutlicht durch Lichtsignale versorgt er
die Kombattanten im Maquis mit Waffen
und Überlebensmitteln. Verpackt in Kisten
schweben sie an Fallschirmen zu Boden.
Der Einsatz gelingt, und auf dem Rückflug
über das Mittelmeer in den Maghreb kom¬
men dem jungen Piloten Erinnerungen an
seine Schulzeit. Er vergegenwärtigt sich das
Bild einer Lehrerin, die auf den Jugendli¬
chen eine erotische Anziehungskraft ausge¬
übt hat, deren Literaturunterricht er, nicht
zuletzt durch dieses Spannungsverhältnis
beflügelt, konzentriert aufnehmen konnte.
Er erinnert sich so der Verse aus Percy Byss¬
he Shellys Poem Laon und Cythna. Eine von
Sommerfeld nicht zufällig ins Spiel gebrach¬
te Korrespondenz mit der Situation sowohl
des Piloten als auch der Partisanen. Das
einst gefeierte Werk des englischen Dich¬
ters, das nahezu fünftausend Verse umfasst,
ist einerseits eine philosophische Abhand¬
lung als auch eine Liebesgeschichte. Es folgt
den Gedanken und Abenteuern eines Ge¬
schwisterpaates, die, angetrieben von sozia¬
listischen, feministischen und ökologischen
Idealen, einen politischen Aufstand entfa¬
chen und schließlich auf dem Scheiterhau¬
fen enden. Dem Pfeil des einsamen Jägers