Und so viel Tote ...
So viele Kinder, die allein geblieben ...
Im warmen Bett, in den geschützten Räumen
kannst du ruhen und träumen?
Der rabenschwarze Wind speit verspätete Samen aus.
Damit nun doch etwas übrigbleibt
von alter Liebe und neuem Leid
Auch ich säe Gedichte.
Neue Worte.
Meine geflüchteten Eltern lehrten mich:
Du bist die Wächterin deiner Schwester.
Halte die Bänder,
die flüchtigen, die hin und her tanzen,
zwischen Zehen und Fingern
aber halte sie, binde sie fest.
Geschaffen aus den verbrannten Toten — dem großen
Verbrennungsofen Europa,
meine getretenen, gebrochenen Grofßmütter,
die Hoffnung meiner Mutter, verbrannte Krusten.
Endlos viele Verwandte ausgelöscht —
einmal irgendwo, jetzt Fetzen am Familienbaum.
Meine Halbblut-Eltern, die als dreckige Verräter an der arischen
Rasse galten,
flohen zu dem spiegelglatten Felsen.
Zu jenem Felsen, der wächst, während man ihn besteigt,
mit zerrissenen Schuhen.
Kein Zurück,
so nahe dem Gipfel.
Jahre später musste mein Vater wiederholen, kränke deine Mutter nicht!
Blutige Höfe, erwürgte Heime im Nebel
und meine Eltern leben weiter.
Ziehen mich auf entlang des unbekannten Weges
bieten Fremden überzählige Hände an
greifen in ihre geschrumpften Taschen
teilen Wasser und Brot.
Nach dem kalten Donner die Welt,
leuchtend, getröstet vom Regen,
reingewaschene Luft.
Die Tauben fliegen wieder.
Ich liebe diese plötzliche Symphonie,
diese Vision eingefügt in einen Traum —
Niemand stirbt, damit ein anderer lebt:
Niemand ist mehr, der andere weniger.
Bei jedem Schritt lehrten meine Eltern mich,
wie ich meinen Fuß setzen sollte —
links, rechts, sagen sie, und ich finde die Felsspalte zwischen den
geschwärzten Steinen, aus der ein grell gelber Löwenzahn
hervorsprießt.
Gewidmet meinen Eltern:
Elsa Pappenheim-Frishauf, 1911-2009, Stephen H. Frishauf 1920¬
2011
V. Amerikaner der ersten Generation
Lied der Erde,
Lied des Himmels.
Meine Leute kamen hierher.
Lied des Mondes und des Windes,
meine Leute kam als Flüchtlinge
zu Amerikas Freiheit.
Mit Rissen im Herzen gebaren sie Kinder ¬
ihr Neubeginn in einem neuen Land.
Herzweh mit Freude, ätzende Splitter.
Meine Leute staunten im Yosemite-Park,
priesen das helle Licht der Hemisphäre,
wiewohl meine Mutter jetzt dunkle Gläser benötigte.
Mond- und Windgesang
blieben seltsam auf Englisch
ganz gleich wie gut wir die Sprache lernten.
Erde und Himmel waren größer
im weiten Amerika — so viele Gesichter,
begierige Körper in Bewegung, Drehung, Gestik.
leckend an klebrig-süßen Zuckerdonuts,
Vermengend Eisbergsalat mit gefärbter Gelatine.
Nicht unsere Art von Speisen!
Eines jeden zerbrochenen Erbstücks gequälter Gesang
stummes Gewicht im Wohnzimmer
Meine Leute kamen und waren allein.
Sie taten, was sie konnten, trotz ihrer zerrissenen Wurzeln,
erklärten meinem Bruder geduldig deutsche Worte,
der sie ungeduldig abschüttelte.
Von mir, der Erstgeborenen, erwarteten sie, ich verstünde
ihren Zungenschlag und was sie meinten.
Ich musste Dazwischensein lernen — meinen Weg finden.
Hier, nicht dort.
Jetzt singen die Enkel
neue Lieder der Erde, des Mondes und des Himmels
und bringen uns heute heim.
VI. Mein Herz im Schraubstock
Hinter ihrer schweren Tür
das abgewohnte blaue Wohnzimmer.
meine traumerfüllte, vergilbte Feenpuppe, 5. Klasse Volksschule
zwinkert mir zu aus der verstaubten Vitrine.