Als ganz Vermont Mitte März 2020 in den harten Lockdown ging,
war besonders die Sorge um alte Menschen groß. Wie würden sie
sich vor dem Virus schützen und mit einem Mindestmaß von Hilfe
auskommen? Und wie würden sie die Einsamkeit aushalten, falls
sie zu Hause auf sich selbst gestellt wären? Im Fall der 99-jährigen
Künstlerin Klara Calitri ging alles glimpflich aus. Zwar lebt sie al¬
lein in ihrem Haus, doch wohnen ihre zwei Töchter Lisa und Thea
in ihrer Nähe. Somit war sie bei Ausbruch der Pandemie nicht total
von der Außenwelt abgeschnitten. „La vie est belle“ ist das Mot¬
to, das sie sich in großen Lettern auf ihr Haus gehängt hat. Die
Schönheit im Leben darzustellen, darauf zielt sie mit ihrer Kunst ab.
Langweilig wird ihr auch in der Zeit der strengsten Isolation nicht,
liegen auf ihrem Tisch doch zahlreiche Werke, die noch fertigge¬
stellt werden müssen. Die Künstlerin arbeitet immer an mehreren
Malereien und Zeichnungen gleichzeitig, verdichtet Farbstriche an
einem Blumenbouquet oder fügt einen papierenen Schmetterling
einem anderen Werk hinzu.
Der Lockdown gab ihr auch die Muße, Dokumente zu ordnen,
die schon jahrzehntelang in ihren Schränken lagen. Ihre von der
Wiener Kultusgemeinde gezeichnete Geburtsurkunde, die nach¬
weist, dass sie am 4. September 1922 im Rudolfinerhaus das Licht
der Welt erblickte. Den am 17.1.1937 von der Maria Lourdes Kir¬
che ausgestellten Taufschein, der ihren Übertritt zur katholischen
Religion bekundet. Und die drei taubengrünen Emigrationspässe
mit dem Hakenkreuz und den Stempeln vom Schweizer Grenzort
Buchs und von Cherbourg in der Normandie. Und als sie die ver¬
gilbten Dokumente hervorholte, kamen auch die Erinnerungen auf,
die sie im Laufe des letzten Jahres mit mir teilte.
Bilder von Männern steigen auf, die in Meidling abends die Gasla¬
ternen noch händisch anzündeten. Die Gemischtwarenhandlung
ihres Großvaters Ignaz Feiner im niederösterreichischen Pernitz
kommt ihr in den Sinn, wo sie die Rinder auf der Weide jeden
Morgen mit: „Guten Morgen, Frau Kuh!“ begrüßte. Ihre Liebe
zur Natur und zu Tieren führt sie jedoch auch auf ihren Großvater
miitterlicherseits, Jan Prave&ek zurück. Der war nach dem Zerfall
des Habsburgerreiches von Wien in den mährischen Ort Polnä (der
durch den Fall Hilsner überregional bekannt geworden ist) zurück¬
gezogen und arbeitete dort als Förster.
Die beiden Großväter lernten sich jedoch nie kennen, hatten doch
der jüdische und der christliche Teil ihrer Familie keinen Kontakt
zueinander. „Aus diesem Grunde hat mich Religion niemals inte¬
ressiert“, bemerkt Klara Calitri heute. Erst als sie geboren wurde,
lernten ihre tschechischen Großeltern ihren Vater Moritz kennen.
Dieser hatte seine Frau Marie während des Ersten Weltkrieges in
Wien kennengelernt, wo sie den Beruf der Modistin erlernt hatte.
Sogar an den Wiener Hof soll sie vor Abdankung des Kaiserpaa¬
res Hüte geliefert haben. Das Ehepaar ließ sich in einer Gründer¬
zeitwohnung in der Aichholzgasse im 12. Wiener Gemeindebezirk
nieder. Moritz Feiner arbeitete von 1921 bis 1932 als Korrespon¬
dent und Kontroller in der Wechselabteilung der Österreichischen
Credit-Anstalt, von 1933 bis zum Juni 1938 bei der Süßwarenfa¬
brik Heller, wo er sich laut einem im Zug der Arisierung des Un¬
ternehmens ausgestellten Zeugnis zum Vertreter mit den höchsten
Jahresumsätzen hocharbeitete. Auch ein Bonbon-Geschäft auf der
Lerchenfelderstraße betrieb er. Die Mutter besaß einen Hutsalon in
„Ich habe in Wien eine glückliche Kindheit verbracht“, erzählt Kla¬
ra Calitri. Fin frohes Lächeln umspielt ihre mit rosa Lippenstift
aufgehellten Lippen. Sie ging in Begleitung der Hausangestellten
gern in den Schönbrunner Schlossgarten spazieren, wo sie lieber mit
Buben als mit Mädchen spielte. „Ich bin gern auf Bäume geklettert.
Puppen haben mich nie interessiert.“
In der Volksschule schloss sie eine enge Freundschaft mit mehre¬
ren Mädchen, mit denen sie auf dem Schulweg immer einen Park
durchquerten. „Und da lauerten uns immer ein paar Buben aufund
attackierten uns“, erinnert sie sich. „Wie haben wir sie genannt —
scoundrels — Gassenjungen!“ Ihre Augen beginnen zu blitzen. Ein¬
mal war ihr die Sekkiererei zu bunt. Als einer der Buben dazu an¬
setzte, die Madchen zu belastigen, schlug sie ihm flugs eine Milch¬
flasche über den Kopf, die sie für ihr Gabelfrühstück in die Schule
mitgenommen hatte. „Passiert ist ihm nichts, aber der Rahm rann
ihm über den Kopf“, erinnert sie sich noch heute mit einem schel¬
mischen Zwinkern. Ihre Mutter gab ihr recht, dass sie sich hatte
wehren müssen, zahlte dennoch die Putzerei für das Gewand des
Buben.
Mit einer Schulkollegin, Edith Koritschoner, kurz „Kori“ genannt,
freundete sie sich ganz besonders an. Koris Vater, Richard Korit¬
schoner, war ebenfalls ein jüdischer Österreicher, der jedoch arbeits¬
los war. Klassenunterschiede waren Klara Calitri zu jener Zeit be¬
reits eindeutig bewusst. „Kori wohnte mit ihren Eltern und ihrem
kleinen Bruder Erich in einer armseligen Wohnung und hatte zu
Hause nicht genug zu essen“, erinnert sie sich. So kam sie einfach
nach der Schule zu Klara - damals von allen „Sissy“ genannt — mit
und aß mit ihr zu Mittag. „Sie war gut in Mathe und nicht so talen¬
tiert in Sprachen. Bei mir war es genau umgekehrt. So halfen wir
uns.“ Wenn sie mit der Aufgabe fertig war, verwandelten sie das Bü¬
gelbrett in eine Rutsche und brachten sich auf der Singer-Maschine
von Klaras Mutter das Nähen bei.
Mit drei anderen Mädchen wechselten sie nach der 4. Klasse ins
Realgymnasium 16 (wahrscheinlich am Schuhmeierplatz). „Wir
hatten ja einen Gratisausweis für die Tramway, aber wir liefen viel
schneller als die Straßenbahn“, beschreibt sie ihren Schulweg. Über
die Wientalbrücke ging es hinauf in den 15. Bezirk und auf dem
Nachhauseweg gönnte sie sich in einem auf dem Weg gelegenen
Fischgeschäft oft einen Rollmops. „Der war mir lieber als jede Sü¬
Rigkeit”“ Zum Gabelfrühstück brachte sie sich ebenfalls etwas Pi¬
kantes mit. „Die Kinder nannten mich immer ‚Feiner Extrawurst‘,
aber das machte mir überhaupt nichts aus“, bemerkt sie mit einem
glucksenden Lacher. Den Marsch von mehreren Kilometern legte
sie mit Kori, Lizzi Pressburg und Erika Richter zurück. Sie nannten
sich die Vier Musketiere. Nach der Machtübertragung an die Nati¬
onalsozialisten wurde Klara vom Gymnasium gewiesen und muss¬
te gemeinsam mit anderen Schüler*innen jüdischer Herkunft die
Schule wechseln (wahrscheinlich in das Gymnasium Henrietten¬
platz im 15. Bezirk). Über alle diese Vorkommnisse hat sich jedoch
ein Schleier des Vergessens gelegt. Im Gegensatz zu vielen anderen
Dingen, an die sich Klara Calitri detailgetreu erinnert, war diese
Zeit wohl zu traumatisch. Wie einer von Koris wiedergefundenen
Briefen aus dem Jahr 1959 belegt, schaffte Lizzi es über Palästina
und Malta nach England. „Erika mit den schönen roten Locken
wurde mit einem Kindertransport nach Dänemark evakuiert“, er¬
innert sich die Künstlerin. Erika überlebte dort und gründete nach