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zu legen, denn die Landschaften, die Ge¬
schichte, die wir mit diesem Buch durch¬
wandern sind geradezu unvorstellbar
und verschlagen einem den Atem, den
Perspektivenwechsel miteingeschlossen.

Der Name Karl Colbert wird den we¬
nigsten etwas sagen. Diese Unkenntnis
steht im diametralen Gegensatz zur Be¬
deutung, die er zu Lebzeiten hatte, auch
Ablehnung und Spott zeugen davon. Er
galt, wie es in einem Nachruf hieß, als
„der bestgehasste Mann von Wien. Das
ist keine Übertreibung.“ Er war durch ein
halbes Jahrhundert eine zentrale Figur
des Wiener Geisteslebens. In der „Welt¬
bühne“ heißt es über den 1929 Verstor¬
benen, „ein großer Mann, dessen Wirken
aus der Geschichte Wiens nicht wegzu¬
denken ist“. Er hat zahlreiche Zeitun¬
gen herausgegeben. Die „Wiener Mode“
war ein Welterfolg. In der Zeitschrift
„Die Wage“ schrieben namhafte Intel¬
lektuelle. Die Zeitung „Der Abend“ war
letztlich ein Massenblatt, das sich um
„Demokratie, Diskurs und Aufklärung“
bemühte, wie Emanuely zusammenfasst.
Bei den vielen gesellschaftspolitischen
Projekten und Initiativen, die Colbert
zugerechnet werden können, erinnert
dies an einen Witz über die Griechen.
Dieser sidestep in die „Zwischenwelt“
muss hier erfolgen, nachdem vor Kurzem
drei Sonderausgaben zu Griechenland
erschienen sind. Wer Griechen zuhört,
kann zuweilen den Eindruck gewinnen,
dass alles, was für die Menschheit von
Belang ist, eigentlich in Griechenland
erfunden und ausprobiert worden sei.
Nicht viel anders scheint es sich bei Karl
Colbert zu verhalten.

Geboren wurde er als Sohn von Moritz
und Charlotte Cohn. Nachdem Tod des
Vater gab Charlotte das Ziehungslisten¬
blatt „Mercur“ selbst heraus, erweiterte
ihr Betätigungsfeld ins Wechselgeschäft
und kann wohl als eine der ersten erfolg¬
reichen Bankerinnen bezeichnet werden.
Im Jahr 1887 änderte der Sohn seinen
Namen auf Colbert, in Anspielung an
den Finanzminister Ludwig des XIV.,
der als Reformer des französischen Fi¬
nanzwesens gilt. „Sich Colbert zu nen¬
nen, kann durchaus bedeuten, sich ge¬
nauso für eine menschenfreundlichere
Wirtschaft, wie für mehr Bildung und
Kunst einzusetzen.“

Colbert verließ das Bankwesen und war
Vieles: Mitbegründer im Deutschdemo¬
kratischen Verein, des Wohltätigkeits¬
und Sozialprojektes „Verein Wiener Sett¬
lement“, aktiv im Verein „Bereitschaft“,

94 ZWISCHENWELT

Mitglied im Monistenbund, Unterstüt¬
zer des Vereins „Freie Schule“, Förderer
der Künstlergemeinde, die unter dem
Namen „Hagenbund“ bekannt war,
war mit seiner Frau Tony in der Frauen¬
rechtsbewegung engagiert.

Nicht nur der Leser legt bei diesem Buch
eine lange Reise zurück, die mit der Re¬
volution 1848 beginnt und die geflohe¬
nen Revolutionäre bis nach Amerika
begleitet, wo sie als „Forty-Eighter“ eine
wichtige gesellschaftliche Rolle gespielt
haben. Diese Reise endet — wie könnte
es anders sein — weder mit dem Tod von
Karl Colbert noch mit dem seines Sohnes
Ernst, dem die Flucht vor den Nazis ge¬
glückt war, der aber in Zagreb 1943 ver¬
haftet und in Auschwitz ermordet wur¬
de. Da manche Ideen in anderen Perso¬
nen weiterleben, verfolgt hier Emanuely
Spuren bis in die Nachkriegszeit. Gerade
in dieser Phase des Buches drängt sich
ein anderes Bild in den Fokus, das bei
manchen die Angst vor gesundheitlichen
Gefahren reifen lässt (oder ist ihnen das
noch nie passiert, dass sie ein Gesprächs¬
partner schwindlig redet und sie Angst
haben; auf den nächsten Atemzug zu ver¬
gessen).

Also Vorsicht beim Lesen, teilen Sie sich
ihre Kondition gut ein und vergessen sie
nicht Wegmarken zu setzen oder Noti¬
zen auf den Seiten zu machen, damit sie
wissen, wo und wann sie unter der pro¬
funden Reiseleitung des Autors welche
Abzweigung genommen haben.

So wie die Ideen, für die Colbert einge¬
treten und gekämpft hat, mit ihm nicht
verschwinden so bestimmen sie auch sein
Leben in jungen Jahren, bevor er noch
richtig aktiv wurde. Beispiele für diese
Prägung und die assoziative Vorgangs¬
weise von Emanuely könnten hier viele
genannt werden. Auf einige wenige Bei¬
spiele sei hier verwiesen. Für die demo¬
kratische Bewegung in Österreich vor
1848 waren die juridisch-politischen
Lesevereine so etwas wie ein Katalysa¬
tor. Colbert hat als Kind in der Nähe
der Clubräume in der Wollzeile, Ecke
Rotenturmstraße, gewohnt und einer
der Proponenten war der Orientalist und
Universalgelehrte
Mit seinem Sohn Adalbert Franz Selig¬
mann hat Colbert dann später den Ver¬

Romeo Seligmann.

ein Kunstschule für Frauen und Mäd¬
chen gegründet.

Schon in der Jugend hatte Colbert Kon¬
takt zu „älteren kritischen Intellektuel¬
len und zu den TrägerInnen der eigenen
revolutionären Tradition im gebildeten

und selbstbewussten Bürgertum“.

Nicht nur die Leserin und der Leser le¬
gen einen weiten Weg zurück, auch der
beschriebene Colbert hat einen weiten
Weg zurückgelegt. Verkürzt könnte man
sagen vom Kapitalisten zum Kommunis¬
ten, oder um genau zu sein vom „Gro߬
bürger zum Sozialreformer und Sozia¬
listen“. Es ist eben keineswegs selbstver¬
ständlich, dass wer zuerst die Mode im
Blick hat, wenige Jahre später die gesell¬
schaftlichen Ungerechtigkeiten porträ¬
tiert und dagegen ankämpft. Wenn Col¬
bert in einer Reihe von Publikationen die
bedrohliche Finanzwelt der zwanziger
und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts
behandelt und demaskiert, so fühlt man
sich plötzlich in unsere Gegenwart mit
den Korruptionisten in den Slimfitanz¬
ügen versetzt.

Auf dem Weg treffen wir viele, die heu¬
te zu Unrecht nur mehr wenigen etwas
sagen, wir treffen auf die Gesellschaft
der Fabier, wir erfahren etwas über den
italienischen Dichter und Revolutionär
Filippo Zambroni, der kurze Zeit Col¬
berts Lehrer war, über Radikaldemokra¬
ten wie Ferdinand Kronawetter oder den
jüdischen Reichratsabgeordneten Julius
Ofner, über die Freimaurer im 19. Jahr¬
hundert, und und... Dies ist nur eine
kleine Auswahl der Begegnungen und
Gedankenanstöße.

Wäre das Buch nicht in einer großforma¬
tigen Ausgabe und mit etwas größeren
Schriftzeichen erschienen, würde das Le¬
sen zu einer gymnastischen Übung wer¬
den. Wer diesen Ziegel, der immerhin
1,3 Kilogramm wiegt, beim Lesen ver¬
sucht zu halten, wie man oder frau dies
von einem Buch gewohnt ist, der liest
mit der Angst, dass in den nächsten 50
Seiten sich neben neuen Bekannten und
Bezügen zu Colbert auch eine Sehnen¬
scheidenentzündung einstellt.

Ohne körperlichen Schaden habe ich die
Lektüre abgeschlossen und es nicht be¬
reut. Natürlich wäre ein strenges Lekto¬
rat hilfreich gewesen, um zum Beispiel
mehr auf den roten Faden zu achten und
somit keine Leser auf dieser Reise zu ver¬
lieren.

Robert Streibel

Alexander Emanuely: Das Beispiel Col¬
bert. Fin de siecle und Republik. Ein doku¬
mentarischer Essay. Wien: Theodor Kramer
Gesellschaft 2020. 656 Seiten. Euro 36,¬