Der letzte Artikel, den Herta Blaukopf publiziert hat, behandelt
ein spezielles Problem der Mahler-Forschung und -Interpreta¬
tion, er trägt den Titel: „Aus drei mach zwei, aus zwei mach
drei!“ und erschien im Herbst 2004 in den Nachrichten zur
Mahler-Forschung! (Heft 51, S. 70-76) — jener Zeitschrift der
Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft, die sie selbst sech¬
zehn Jahre lang, von 1978 bis 1994, redigiert hatte. Es geht dar¬
in, wie der Untertitel kundtut, um „die Stellung der Innensätze
in Mahlers Sechster Symphonie“. Aber es geht um viel mehr.
Herta Blaukopf galt, wie in den Nachrufen zu lesen war, als
Doyenne der Mahler-Forschung. Dabei hatte sie eigentlich an
der Wiener Universität Germanistik studiert (zusammen mit
Grete Dostal und Erwin Chvojka), 1948 mit einer Arbeit über
Arthur Schnitzler promoviert und anschließend in der Redaktion
des Abend, später als Verlagslektorin, u.a. in der Universal
Edition, gearbeitet. Unter ihrem Mädchennamen Herta Singer
erschienen im Verlag für Jugend und Volk die Bücher „Im Wiener
Kaffeehaus“ (1959), „Humor und Hamur“ (1962) und „Wien
— Stadt der Musik“ (1964).
Erst durch den Musiksoziologen Kurt Blaukopf, der 1947 aus
dem Exil in Palästina nach Wien zurückgekehrt war und den
sie 1959 geheiratet hatte, kam sie zur Mahler-Forschung — wie
sie selbst immer wieder etwas ironisch betonte. Sie nahm schon
an der Vorbereitung seiner legendären Mahler-Monographie, die
Wesentliches zur Mahler-Renaissance beitragen konnte, aktiv
Anteil, schloß aber daran bald mit eigenen Forschungen an. So
widmete sie sich dem Auf- und Ausbau der Archive in der
Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft, publizierte drei
Bände mit Briefen des Komponisten — zuletzt arbeitete sie an
einer Neuausgabe eines Briefbandes — und schrieb zahlreiche
Essays zu dessen Biographie und Rezeption, die durch ihre
Prägnanz und Klarheit aus dem akademischen Betrieb hervor¬
stechen.
Prägnant und klar sind ebenfalls ihre Bemerkungen zur
„Stellung der Innensätze in Mahlers Sechster Symphonie“. Wenn
auch als Glosse angelegt, war ihr dieser Artikel besonders wich¬
tig. Er wandte sich gegen eine „merkwürdig aufgeregte Pole¬
mik“, die bestimmte Auffassungen von Erwin Ratz, dem ersten
Herausgeber der kritischen Gesamtausgabe Mahlers, anfocht.’
Die Genauigkeit, mit der Herta Blaukopf argumentiert, gibt nicht
vor, beweisen zu können, daß die neueren Forschungen unrecht
hätten, wonach Mahler daran festgehalten habe, die ursprüng¬
liche Reihenfolge umzukehren und das Scherzo dem Andante
folgen zu lassen. Aber sie stellt die Ergebnisse doch entschie¬
den in Frage, meldet geradezu energisch Zweifel an, vor allem
jedoch macht sie deutlich, daß über die Arbeit von Ratz nicht
in solchem Ton geschrieben werden kann. Sie gibt lediglich
Verschiedenes zu bedenken, aber was sie im einzelnen zu be¬
denken gibt und wie sie es tut, ruft eine ganze Welt in Erinnerung,
aus der sie selbst kommt und von der jene merkwürdig aufge¬
regte Polemik offenbar kaum eine Ahnung hat. Ihr Artikel wen¬
det sich damit indirekt gegen eine Auffassung von Wahrheit,
die, historische Fakten gegen analytische Reflexion ausspielend,
auf Genauigkeit im Detail nur setzt, um von ihren eignen Vor¬
aussetzungen nichts mehr wissen zu müssen.
Herta Blaukopf zitiert aus einem einst wichtigen Buch von
Paul Stefan, auf das sich auch Ratz stützte. Stefan schrieb 1920,
daß Mahler die Umstellung der Mittelsätze wieder zurückge¬
nommen und die ursprüngliche Reihenfolge dann als endgül¬
tig bezeichnet habe, wobei er keinen Hinweis auf eine Quelle
gibt. Sie beruft sich des weiteren nicht auf analytische Befunde
aus dem Umkreis der Wiener Schule?, aber sie erinnert ein¬
drücklich daran, daß Mahlers Sechste in Schönbergs „Verein für
musikalische Privataufführungen“ gespielt wurde; daß Webern,
in dieser Tradition stehend, einer der bedeutendsten Mahler¬
Dirigenten wurde und das Scherzo der Sechsten offenkundig
ganz bewußt als zweiten Satz auffaßte; Schönberg und Webern
standen noch mit Mahler selbst in persönlichem Kontakt.
Im besonderen jedoch geht es der Autorin darum, die enge
Bindung von Erwin Ratz an diese Tradition zu vergegenwär¬
tigen. Und mit wenigen Worten evoziert sie Gestalt und Be¬
deutung dieses Bäckersohns und Schönbergschülers: Seit sei¬
nem zwanzigsten Lebensjahr habe er „im Bann“ des großen
Komponisten und Lehrers gestanden — und dazu gehörte wie
selbstverständlich das Engagement fiir die Musik Mahlers. Bald
nachdem im Zusammenhang des großen Amsterdamer Mahler¬
Festes von 1920 ein internationaler Mahler-Bund gegründet wor¬
den war, für den Schönberg sogar schon die „Verfassung“ ge¬
schrieben hatte, wollte Ratz eine Wiener Zweigstelle aufbau¬
en. Dieser Wiener Mahler-Bund kam damals nicht zustande, die
Musik Gustav Mahlers wurde schließlich 1938 auch aus Wien
vertrieben, aber nach dem Ende des Nationalsozialismus konn¬
te Erwin Ratz doch sein Projekt verwirklichen und gründete 1955