OCR Output

Verlegung nach Alberobello

Mit zwiespältigen Gefühlen nimmt Hakel Anfang Februar 1941
die Nachricht von seiner Verlegung „nach Süden bei Bari“ auf.
Wenn er dort auch ,,noch ferner von Wien, von allen Freunden
sein“ wird, so lockt doch „‚das Neue. Landschaft und Leute“, und
„vielleicht gelingt mir dort die erwartete Leistung. [...] Gedich¬
te? Epos?“ Das Neue, welches den Wiener lockte, manifestierte
sich als das in einer alten Landwirtschaftsschule untergebrach¬
te Lager von Alberobello, einem Ort in Apulien, weithin bekannt
durch seine malerischen Trulli, konische bäuerliche Wohn- und
Nutzbauten, die bis auf prähistorische Zeiten zurückreichen.
Ungefähr zur Zeit, als Hakel dort ankam, hatte die Belegung ihren
Höchststand erreicht mit 57 Männern, die die 32 Räume aber
bei weitem nicht auslasteten. Die Miete im Vierbettzimmer be¬
trug 15 Lire; man scheint den Internierten eine Art partieller
Selbstverwaltung gewährt zu haben, denn sie gründeten eine
„Wirtschaftskommission“ und verpflegten sich ‚in eigener Re¬
gie“. Der Direktor des Lagers war der Podestä (=Bürgermeister)
des Ortes; „sechs gutmütige Carabinieri, in einem Nebengebäude
untergebracht‘“”, sollten, wie Hakel berichtet, die Internierten
beaufsichtigen, waren aber selten zu sehen. Die Post wurde täg¬
lich ausgeliefert. Verschiedenste Quellen wie Das Kleine Blatt
(ein von den Nazis weitergeführtes, ehemals sozialdemokrati¬
sches Massenblatt), illustrierte deutsche Heeresberichte, italie¬
nische Zeitungen und Kriegsbulletins dienten den vom Zeitge¬
schehen Abgeschnittenen zur Information und als Grundlage für
(tages-)politische Diskussionen. Auffallend an Hakel ist das ra¬
biate Desinteresse am aktuellen politischen Diskurs seiner
Kameraden („leerer Lärm verliert sich in der Luft***) wie im tibri¬
gen auch sein Spott über deren bange Erwartung der Erhöhung
des Gefangenensolds von 6 auf 8 Lire oder seine allzu optimi¬
stische Einschätzung der Qualitäten Mussolinis und der Chan¬
cen Italiens im Krieg.” Da diskutiert er schon lieber mit dem in¬
teressantesten seiner Mitbewohner, dem exilrussischen Schrift¬
steller und Philologen Nikolaus Ozupe, über sein Idealbild, den
„schönen Menschen“ Friedrich Hölderlin aus dem Blauen Buch
der deutschen Dichter (wie wir uns erinnern, seine Kindheitslek¬
türe); oder er entwirft für denselben Russen einen originellen
Abriß der deutschen Literaturgeschichte; oder er organisiert li¬
terarische Zirkel, an denen auch Felix und Stefan Zweig, die ju¬
gendlichen Neffen des Erfolgsschriftstellers Stefan Zweig, teil¬
nehmen. Für die erste Vorlesung wählt Hakel Goethes Unterhal¬
tungen deutscher Ausgewanderten aus, „weil in der Einleitung
manche Ähnlichkeiten mit unserer Situation, beispielsweise die
lästigen politischen Diskussionen behandelt werden“. Darauf kon¬
tert Felix Zweig, daß der Unterschied nicht größer sein könne,
„vor allem wären [sie] keine Emigranten sondern Juden“.

Als „ein kostümierter Kirchenfürst‘*' mit Gefolge im Lager
auftaucht, erhoffen sich die Insassen, frohgestimmt von
Hakels Erzählungen über die großzügigen Geschenke, die Kar¬
dinal Borgongini Duca, der päpstliche Nuntius beim Quirinal,
seinerzeit in der Villa Oliveto verteilte, Ähnliches, erhalten je¬
doch nur Bildnis und Segen Pius XI. Auch sollen die Bitt¬
schriften, die der Sekretär Seiner Eminenz entgegennahm, nicht
beantwortet worden sein.

Beim Milchholen für die Gemeinschaft ergibt sich die Mög¬
lichkeit, für eine Stunde dem Lager zu entrinnen und die apu¬
lischen Bauern kennenzulernen. Von einem solchen Trulligehöft
und seiner „urzeitlichen“ Finsternis und Primitivität, für den
Mitteleuropäer kaum nachvollziehbar, hat uns Hakel eine Be¬
schreibung hinterlassen, die wir im Anhang abdrucken.

48

Im Lager Campagna bei Eboli

Gegen den Sommer hin klagt der Schriftsteller häufig über die
hämisch-böse Atmosphäre, die im Lager Alberobello herrsche,
„widerlich bis zum Erbrechen, [...] ein Mischmasch aus
Narrenhaus und Greisenalter““. Die Entfremdung von seinen
Gefährten kulminiert schließlich in körperlicher Gewalt.
Nachdem der Gemeinschaftskoch Fried den eigenwilligen
Wiener öffentlich beleidigt und gewürgt hat, schottet sich die¬
ser noch mehr ab. Ende Juni übergibt er dem Arzt aus Bari sein
Versetzungsgesuch, Mitte August hören wir, daß auch der
Bischof das Gesuch befürwortet hat, und im Oktober 1941 be¬
findet sich Hakel bereits im Lager von Campagna, einer
„schmutzigen Bergstadt, voll moosiger Ruinen und fremder
Fratzen‘“®, im Salernitanischen, nicht weit entfernt von jenem
Eboli, das uns aus Carlo Levis Roman Christus kam nur bis Eboli
als Symbol unsäglicher Rückständigkeit und „abweisender
Armut‘ des Mezzogiorno bekannt ist. Das Lager erstreckte sich
auf zwei ehemalige Klöster, die jeweils am entgegengesetzten
Ortsausgang* lagen. Hakel wurde in San Bartolomeo interniert,
das nur durch eine steile Stiege mit dem Ortskern verbunden
war. Ob der Schriftsteller wußte, daß Giordano Bruno hier sein
Noviziat verbracht hatte? Hinweis darauf gibt er uns keinen. Was
die Zahl der dort festgehaltenen „ausländischen Juden“ betrifft,
weichen Hakels Angaben von den geringeren Klaus Voigts ab:
hundert Leute aus einem anderen Lager seien gekommen,
schreibt ersterer im Mai 1942, die „bereits geregelte Unordnung
[habe] sich in ein wirkliches Chaos verwandelt““. Jedenfalls
stand in den „großen, stinkigen‘“ Sälen Bett an Bett, das tief¬
gelegene Refektorium, das als Speisesaal und Aufenthaltsraum
diente, war bisweilen überschwemmt, auch sonst dürften Feuch¬
tigkeit und Kälte im Winter, Wassermangel im Sommer, eine
offene, überquellende Kloake, bloße Wasserhähne im Innenhof
als Waschgelegenheit nicht zum Wohlbefinden der überwiegend
deutschsprachigen Internierten beigetragen haben; von der
Gesundheitsinspektion war das Klostergebäude, welches au¬
Berdem über den von der Genfer Konvention geforderten Min¬
destraum zum Ausgang nicht verfügte, jedenfalls bereits Anfang
1942 für ungeeignet erklärt worden”. Das Fehlen eines ent¬
sprechenden Grundstücks stellte sich allerdings insofern als vor¬
teilhaft heraus, als man den Gefangenen erlauben mußte, sich
im Ort zu bewegen. Von solchen Spaziergängen in Campagna
hat uns Hakel bedrückende Milieuschilderungen hinterlassen:
Nichts „Südblaues“ haben die Gassenschluchten, in deren fin¬
sterer, schmutziger Kerkerhaftigkeit Kinder aufwachsen müs¬
sen. Frauen lausen einander, Mädchen laufen mit kahlen Köpfen
herum — das beste Mittel gegen Krätze, Greisinnen mit „gel¬
ben Totengesichtern“ hocken mit ihrer Spindel vor den Häu¬
sern, ein brutal geprügelter Esel, ein unvorstellbar armseliges
Kinderbegräbnis, eine „Hure auf Urlaub“, eine schäumende
Epileptikerin — all diese Begegnungen und Eindrücke quälen
den einsamen Spaziergänger bis zur Verzweiflung. Im November
erhält er vom Generalkonsulat in Neapel in italienischer Sprache
die Mitteilung, daß ihm die Staatsbürgerschaft aberkannt wur¬
de. Zunehmende Lebensmittelknappheit und andererseits die
Ausbeutung durch geschäftstüchtige „Hausverdiener“, die ihren
Mitgefangenen Brötchen, Bonbons und Backwaren verkaufen,
setzen ihm genauso zu wie die Suche nach angemessenen
Erzählformen und die weitgehende sexuelle Karenz: „Am Platz.
Ich folge [...] Mädchenbrüsten und Schenkeln durch die Gassen
[...] Glanz von nacktem Fleisch, Knien (und weiter hinauf) [...]
Lustwahn! Blut schwillt.“*