Im September dringen beunruhigen¬
de Nachrichten über den Massen¬
mord an Juden bis ins Lager (teils
schließt Hakel sie auch aus den
Basler Nachrichten): Kroatien habe
viele tausende Juden in Waggons
verladen und nach Polen abgescho¬
ben, auch Juden aus dem besetzten
Frankreich seien dorthin gebracht
worden. Was tun, wenn die Gestapo
etwa seine eigene Auslieferung ver¬
langte?”
Hakel, im Lager beimanchenals ®
„Meckerer, Kritiker, der nur im
Bett liegt, nichts tut und alles besser
weiß“, verschrien, inszeniert aber _
auch eine große Revue mit Sprech¬
szenen, Musik und Chor, die allen
gefällt, wenngleich sie wegen der
darin vorkommenden Persiflage ei¬
ner Hitler-Rede besorgt sind. Ende
1942 gelingt es ihm, ein längst ver¬
sprochenes Einzelzimmer zu be¬
kommen, das ihm zweimal wohlhabendere Internierte durch
Bestechung der Carabinieri weggeschnappt hatten’: Seligkeit,
endlich die Türe hinter sich schließen, Arbeitsbücher und Kon¬
zeptpapier bereitlegen und sich in einem Stuhl zurücklehnen zu
können!
„Freier Internierter“ in Rotonda: „Und ich sitze
mitten drin!“
Nach der Aufführung einer nächtlichen Abschiedsrevue Auf
Wiedersehen!, die ihm 150 Lire einbrachte, verließ der Schrift¬
steller Anfang März 1943 zusammen mit „O. Gross, einem
harthörigen Geizhals‘“”, Campagna, um eine mildere Form der
Konfinierung als „freier Internierter“ anzutreten. Von der
Quästur der Provinzhauptstadt Potenza wurden sie in die
Kleinstadt Rotonda, „ein versteinertes Stück Mittelalter‘ in
den Bergen der Basilicata, weitergewiesen. Auf der langwie¬
rigen Reise hatte Hakel mehrmals Gelegenheit, gentilezza und
tolleranza der Italiener kennenzulernen, die ihn weder als Feind
noch als „Fremdrassigen“ betrachteten: So trug ihm ein junger
Soldat in Potenza seinen Koffer und wurde ihm ‚in dieser ver¬
lassenen Nacht in der Fremde Führer und Retter“.
Obwohl den ‚‚freien Internierten“ in den Kommunen an und für
sich nur der persönliche Umgang mit Quartiergebern und
Wirtsleuten gestattet war, scheint sich — zumindest im Falle
Rotonda — kaum jemand daran gehalten zu haben, auch als die
Lage infolge der Kriegsereignisse noch nicht zum Chaos aus¬
geartet war: Hakel hatte Kontakte zu allen möglichen Leuten,
mußte sich allerdings täglich in der Carabinieri-Kaserne mel¬
den und war in seiner Bewegungsfreiheit relativ beschränkt: So
erfahren wir, daß ihm der Maresciallo der Carabinieri nur wi¬
derwillig die Erlaubnis zu einem Kinobesuch (Ohm Krüger mit
Emil Jannings) gab. Außer dem Wiener befanden sich jeweils
noch vier andere Internierte in dem Bergstädtchen: Wir hören
abwechselnd von einem sozialistischen Maurer mit Frau, einem
Viehhändler aus Benevent (konfiniert wegen verbotener
Schlachtungen), einem slowenischen Advokaten aus Görz (po¬
litische Gründe), einem istrianischen Anarchisten und Spa¬
nienkämpfer, der bereits französische und deutsche Konzentra¬
tionslager hinter sich hatte und nach der faschistischen Götter¬
dämmerung an einer Mini-Revolution in Rotonda teilnehmen
sollte, einem evangelischen Juden aus Berlin, einem Rab¬
binersohn aus Milano und anderen.
Die zwischen Frühjahr 1943 und Frühjahr 1945 (als Hakel
sich in Taranto nach Palästina einschiffte) vorgenommenen
Eintragungen sind zweifellos der historisch interessanteste so¬
wie an persönlichen Turbulenzen reichste, wenn auch am
schwersten zugängliche Teil der Tagebücher‘, umfaßt er doch
die alliierten Landung in Sizilien (10. Juli 1943), die verhee¬
rende Bombardierung von Rom durch die Angloamerikaner am
19. Juli, den Sturz Mussolinis (25. Juli), die langsame Verschie¬
bung der Front in Süditalien, den Waffenstillstand der Regie¬
rung Badoglio mit den Alliierten (8. September), die darauf¬
folgende verantwortungslose Flucht des Königs und einer Schar
von Generälen und Funktionären nach dem Süden, die chaoti¬
sche Auflösung der Armee, die Befreiung Mussolinis durch die
Deutschen und die Gründung der Republik von Salö (12. bzw.
23. September), die Befreiung Roms (4. Juni 1944) und ande¬
re Großereignisse, von denen Hakel teils mit Recht sagen kann
„Und ich sitze mitten drin!“
Zum Hintergrundgeräusch schwerer Bomber, die Neapel und
andere Ziele anfliegen, reflektiert der Schriftsteller im Frühjahr
1943 höchst realistisch über die „zum Letzten entschlossenen“
Deutschen und die kriegsmüden Italiener, die „ausspringen wer¬
den um einen Sonderfrieden zu machen. [...] Vom Widerstand
der Italiener ist nicht viel zu erwarten.‘ Die Internierten sind,
zum Unterschied von den Ortsansässigen in Rotonda, regel¬
mäßige Abnehmer von Zeitungen und Interpreten der italieni¬
schen und deutschen Heeres-Bulletins. Der Presse entnimmt
Hakel am 16. Juni 1943 auch Punkt 8 der Entschließung des
Präsidiums der faschistischen Partei vom 14. Juni: „Repatriie¬
rung aller Ausländer“.
Es wird mir klar, daß das, was wir alle immer gefürchtet ha¬
ben, nun Wirklichkeit werden soll. Heute. Morgen. In einer
Woche. [...] Wenn das geschieht, bedeutet das für mich den si¬