delt. Aber er achtete den Wunsch seiner Frau, die sich gegen eine Rückkehr
heftig wehrte. Ab 1952 hat er Österreich regelmäßig besucht. „Es ist schwer zu
schildern“, schrieb er in seiner Autobiographie, „in welch euphorischen Zustand
mich die Aussicht auf eine, wenn auch nur explorative, Rückkehr versetzte“.
Ernst Waldingers Gedicht „Gekritzel im Hausflur“ verdankt sich Theos Bericht
über sein Wiedersehen mit der Geburtsstadt:
Als er verändert in die Heimatstadt
Nach Jahren zu Besuch kam, fand er sie
Noch unverändert, denn die Melodie
Die innre, die ihr ihren Glanz verlieh,
Sie blieb sich gleich; der Abend senkte matt
Und lässiger als anderswo sich nieder;
Gleich schäbig, wie er sie verlassen hat,
War auch die alte Gasse; Astgefieder
Aus Gartenhöfen blickte wie zuvor
Vorsichtig scheu durch manches offne Tor,
Und zwischen Pflastersteinen wuchs das Gras
Wie früher, und aus dem Kanale gor
Ein leichter, süßlicher Gestank nach Gas,
Derselbe, der sich hier nie ganz verlor,
So daß der Fremde fast den Krieg vergaß
Und die Zerstörung, die die Stadt nicht schonte.
Doch in dem Flur des Hauses, wo er wohnte,
Als ob inzwischen nichts geschehen sei,
Fand er sogar die Kinderkritzelei;
Das Manderl, das als Bub er an die Wand
Gezeichnet hatte, war noch immer da,
Und wenn - sic transit mundi gloria! ¬
Die Kunst im Schutt lag, hatte dies Bestand.
Jahrzehntelang ist Theo Waldinger, in Österreich, über den Kreis seiner alten
Freundschaften nicht hinausgekommen. Einer dieser Freunde war Franz Marek,
mit dem er im Pariser Exil viel zusammengewesen war. Wie Marek brach Theo
nach der Niederschlagung des Prager Frühlings mit der Kommunistischen Partei
(in seinem Fall jener der USA). Fortan blieb ihm als politische Heimat nur noch
die Utopie: der Traum von einem nicht-zentralistischen, nicht-bürokratischen
Sozialismus. Er gehörte, ohne daß wir, denen diese Zeitschrift später publizisti¬
sches Asyl gewährte, davon wußten, zu den Freunden des Wiener Tagebuch.
Als Kaiser, Gauß und ich ihn im Sommer 1989 kennenlernten, kannte er uns also
schon dem Namen nach; und trotzdem war es nicht die gemeinsame journalisti¬
sche Plattform, die uns zusammenbrachte. Theo wollte als Witwer und Pensionist
bewerkstelligen, was er sich über Jahrzehnte aufgespart hatte. Er wollte für
seinen Bruder Ernst die Anerkennung, die ihm in Österreich vorenthalten war.
Er wollte die losen Fäden alter Freundschaften neu knüpfen. Und er wollte:
Heimkehren, selbstverständlich heimkehren. Das Schöne an seinem Leben ist
dies: daß ihm das erste wie das zweite, und vor allem andern auch das letztge¬
nannte Vorhaben geglückt ist.
1990 brachte Karl-Markus Gauß im Otto Müller Verlag einen liebevoll ausge¬
statteten und kundig zusammengestellten Auswahlband mit Gedichten und
Essays von Ernst Waldinger heraus (und beschämte damit einen Wiener Verle¬
ger, der sich für ein derartiges Unterfangen nur gegen eine Stange Geld bereit
erklärt hatte). Dem Auswahlband steht eine sachte, ungemein dichte Lebens¬
skizze voran, die Theo selbst verfaßt hat.
Trotz aller Wärme, mit der er vergangene Zeiten vergegenwärtigte, hat es Theo
Waldinger stets vermieden, Etappen seines Lebens zu verklären. Er bewahrte
eine klare, fast überscharfe Erinnerung an Momente der Not und des Unrechts.
Wenn er an seiner ehemaligen Schule vorbeiging, bekam er „noch immer Herz¬
klopfen beim Gedanken an jene längst vergangenen Jahre der Schülerqual“, und
kaum das Ende dieses Ringens bringen
wird; wenn man an die Millionen hinge¬
mordeter und leidender Menschen
denkt ... und dies kommt ja mit jedem
Gedanken an Europa-- dann hilft es
doch, zu wissen, daß sie nicht umsonst
starben und daß sie gerächt werden...
„. Es schneite gestern wieder einmal...
heute vormittag war erst Edi und
nachher ich mit Liese rodeln und am
Eislaufplatz und fühlten uns so gut und
„jugendlich“ wie schon lange nicht...
Vor zwei Wochen waren wir bei unseren
Freunden Waldingers: Liese bekam
etliche Sachen geschenkt, die noch aus
Wien stammen und einst der nun fast
12jährigen Grete gehörten. Darunter
waren wunderbare Schuhe mit ange¬
schraubten Schlittschuhen, die jetzt
Liese genau passen; und so fühlten wir
uns verpflichtet, ihr nun diese Kunst bei¬
zubringen...
Eveline März hat das Schicksal ihrer
Familie in dem Aufsatz „Die Familie
März im Zeichen des März 1938“ (Das
Jüdische Echo, 36. Jg., Oktober 1987,
178-181) dargestellt. Ihr Vater Eduard
März, der Nationalökonom, studierte
damals an der Harvard-Universität.