Folgen sie mir bitte als Einstieg in die Schwierigkeit der Wahrnehmung des kaum
Aussprechbaren in einen Bericht des 1925 geborenen Soziologen Zygmunt Baumann.
Als seine Frau Janina Baumann ihre Erinnerungen tiber ihre Zeit im Ghetto und im
Untergrund schrieb, bemerkte er, der damals fliehen konnte, wie wenig er wußte — oder
besser, wie wenig er nachgedacht hatte. Natürlich wußte er genug über die industrielle
Massenvernichtung, aber sie war ihm letztlich ein historischer Prozeß, wie andere auch.
„Meine Vorstellung vom Holocaust war wie ein gerahmtes Bild an der Wand, das von
seiner Umgebung sauber getrennt ist und mit dem Rest des Mobiliars nichts zu tun
hat.“!
Baumann, der seine Empathie der Erinnerungsarbeit seiner Frau zu danken hat,
wendet sich noch einmal den Forschungsergebnissen über die Massenvernichtung zu,
und obwohl er sie schon kannte, kam er nun zu völlig anderen Schlußfolgerungen: ‚Der
Holocaust war kein Bild an der Wand, sondern ein Fenster, durch das Dinge sichtbar
wurden, die normalerweise unentdeckt blieben. Und was zum Vorschein kam, geht
nicht nur die Urheber, die Opfer und die Zeugen des Verbrechens etwas an, sondern ist
von größter Bedeutung für alle, die heute leben und auch in Zukunft leben wollen. Der
Blick durch dieses Fenster verstörte mich zutiefst, aber je bedrückter ich wurde, desto
mehr wuchs in mir die Überzeugung, daß es äußerst gefährlich ist, diesen Blick nicht
zu tun.“? Die Untersuchung des Phänomens Holocaust muß für die Diagnose der
modernen Gesellschaften genutzt werden. Nur ein Wissen über das, wozu Menschen
imstande sind, kann uns gegen die Gefahren der Zukunft wappnen.
Hier haben die schlimmen Erinnerungen und Erfahrungen Ernst und Hilde Federns
ihren Platz. Ihr Gedächtnis ist wichtig und ist nicht Material zur Ausschmückung
wissenschaftlicher Werke. Die epochale Arbeit Raul Hilbergs — die Darstellung des
Umbaus der deutschen Gesellschaft zu einer beängstigend effektiv funktionierenden
Mordmaschinerie — sieht menschliches Handeln im wesentlichen unter diese Maschi¬
nerie subsumiert. Und die schaurige Bilanz dieser Menschheitstragödie gibt ihm ein
Recht dazu, aber im Interesse der Rekonstruktion des Menschlichen sollten die Spuren
des Hoffens und Fühlens, aber auch die Beschädigungen der menschlichen Existenz im
absoluten Terror nachgezeichnet werden. Aus der Geschichte der Unterdrückung Hilde
und Ernst Federns kann die Totalität des KZ-Systems natürlich nicht analysiert werden,
doch sollte gelingen, was zumindest ebenso wichtig ist: eine dichte Beschreibung der
Unterwerfung von konkreten Menschen unter ein System des absoluten Terrors, also
eine konkrete Schilderung der Bedrohung menschlicher Existenz und eine Darstellung
des Lebenswillens. Nur im Bericht der überlebenden Opfer kann das gefährdete
Menschsein wiedergefunden werden.
Ernst und Hilde Federn sind sich bewußt, daß ihre Erfahrungen und ihr Wissen das
Verständnis der nachfolgenden Generation überfordert. Aber gerade diese Kenntnis der
Wahrnehmungsproblematik läßt sie mit ihren Aufklärungsambitionen erfolgreicher
sein. Sie teilen mir in anstrengenden Diskussionsprozessen ihre extremen Lebensge¬
schichten mit und akzeptieren mein aus dem Studium der Literatur gebildetes Vorver¬
ständnis. Ich danke ihnen hier herzlich für ihre Geduld, ihr Vertrauen und ihre
Konfliktfähigkeit, die sie mir entgegenbringen. Ich betrachte es als große Ehre, daß ich
ihre Kenntnisse und humanen Traditionen im Rahmen eines Forschungsprojektes einer
interessierten Öffentlichkeit zugänglich machen kann. Ich will nun versuchen, zentrale
Stationen des Weges Ernst Federns durch die KZ Dachau und Buchenwald samt den
nötigen Fragmenten einer Analyse des KZ-Systems nachzuzeichnen.
Zuvor noch einige kurze und notwendige Anmerkungen zu ihrer Herkunfts- und
Bildungsgeschichte: Ernst und Hilde Federn entstammen jüdischen Familien, in denen
der Prozeß der Assimilation weit fortgeschritten war, sie begreifen sich nicht mehr als
Juden. Sie gliedern sich in die sozialdemokratische Jugendbewegung ein und hoffen