Beispiel 2: Fritz Nemitz: Alfred Kubin.
(Aus: Das XX. Jahrhundert, 5. Jg., S.
Kubin gilt als Schilderer des Abseitigen und
Unheimlichen, der Dämmerungswelt und des
Traumes. So sehr auch die Nachtseite, ,,die
schönere Seite des Tages“, den frühen Kubin
bestimmt, so ist damit sein Wesen nicht er¬
schöpft, ebensowenig wie mit der Bezeichnung
Traumzeichner, wie sie auf Blake besser paßt.
Wenn auch der Traum in seinem Werk eine
. Rolle spielt — Kubin ist viel weniger das, was
man einen Träumer nennt — auch im Leben; es
ist vielmehr so, wie wenn bei ihm kein Unter¬
schied zwischen Träumen und Sehen bestände.
Die Kräfte, die ihn nähren, die Quellen, die ihn
speisen, sind unromantischer Art. Diese brechen
immer dort auf, wo das Leben als Elementarpro¬
zeß erlebt wird und als Ereignis, das, dauernd
gesprengt, dauernd neues Gleichgewicht sucht.
Romantisch ist diese Art, die Fragwürdigkeit
und Zweideutigkeit der Dinge zu erleben; ro¬
mantisch das Vorherrschen des Irrationalen, das
den Weltsinn nicht in verstandesmäßigem Den¬
ken, sondern im Erfühlen und Erahnen sieht.
Wäre Kubin nur ein Zeichner phantastischer
Stoffe, so wäre über ihn nicht viel zu sagen. Er
hat aber eine elemantare Beziehung zu jenen
Mächten, die, nach Schillers Wort im ‚‚Wallen¬
stein“, in uns ,,unter Tage schlimmgeartet hau¬
sen“. Ohne eine démonische Natur zu sein, hat
er ein echtes Verhältnis zum Dämonischen, vor
dem er in das Bild flieht und vor dem er sich
durch das Bild rettet.
Dieses Dämonische, ‚dieses Wesen, das zwi¬
schen alle übrigen hinzutreten, sie zu sondern,
wie zu verbinden schien‘ (Goethe), fühlt Kubin
in der Natur wie im banalen Alltag. Es läßt ihn
die Angst der Kreatur spüren wie die Weltangst
des Künstlers. Es drückt ihm die Feder in die
Hand, die für die Realisierung seiner Vorstellun¬
gen das willigste und beste Werkzeug abgibt. Sie
sichert nicht allein die unmittelbare Übertra¬
gung, sondern auch die innere. Spannung und
Erregung ...
Darum wirken seine Zeichnungen besonders auf
den naiven und unverbildeten Menschen. Gera¬
de diese Naivität, die manchem vielleicht selt¬
sam oder skurril vorkommen mag, macht Ku¬
bins Gesamterscheinung so bedeutend ...
Das Phantastische liegt nicht im Motiv, im Stoff,
sondern in der Art der Strichführung, in der Ver¬
schmelzung von Handwerk und Vorstellung ...
1 Die biographischen Daten stammen aus:
Alfred Kubin (1877-1959). [Katalog zur Aus¬
stellung in der oö. Landesgalerie vom 2. März
bis 9. April 1995.] Hrsg.v. Peter Assmann. Salz¬
burg: Residenz 1995.
2 _Meinhart Sild (geb. 29.6. 1917, Innsbruck);
ab 1937 SA-Mitglied; Pressereferent im NS¬
Fliegerkorps Gruppe 17 (Österreich); war 1941
Sekretär des Reichskommissars für die besetz¬
ten niederländischen Gebiete, Arthur Sey8-In¬
quart. (Quelle: Österreichisches Staatsar¬
chiv,Gauakt 239.328.)
Künstlerfreunden keineswegs ab; Kubin trat außerdem der von Jawlensky und Kan¬
dinsky gegründeten „Neuen Künstlervereinigung München“ sowie der Gruppe des
„Blauen Reiter“ bei. Es entstanden freundschaftliche Beziehungen mit Fritz von
Herzmanovsky-Orlando, Richard Schaukal, Hans Carossa, und er nahm Kontakt auf
mit Gustav Meyrink, Franz Kafka und vielen anderen. Kubin avancierte ab den 10er
Jahren zu einem der beliebtesten Buchillustratoren der deutschen Verlage, seine Gra¬
phiken waren bei Herausgebern von Kulturzeitschriften ebenso beliebt wie bei Galeri¬
sten und anderen Ausstellungsorganisatoren.
Der Machtergreifung der Nationalsozialisten gegenüber verhielt sich der inzwischen fast
66jährige Künstler, der immer wieder seine unpolitische Einstellung betonte, abwartend
und distanziert. Persönlich trafen ihn Auftragseinbußen, Grenz- und Geldschwierigkeiten
sowie die Sorge um seine „halbjüdische“ Frau Hedwig. Zahlreiche Künstlerfreunde
mußten ins Exil gehen. Dies hinderte Kubin aber nicht daran, der Reichskammer der
bildenden Künstler beizutreten, obwohl das wegen seines Wohnsitzes in Österreich in den
Kammergesetzen nicht einmal vorgesehen war und Kubin deshalb 1937 auch wieder
ausgeschlossen wurde. Die Nationalsozialisten standen dem Künstler ebenfalls ambivalent
gegenüber, einerseits wurden seine 1924 bei Piper verlegten 20 Bilder zur Bibel auf die
Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums 1938 gesetzt und es gab zahlreiche
Schwierigkeiten bei neuen Buchprojekten während der NS-Ära, andererseits fand er immer
wieder Förderer unter den NS-Funktionären.
Eine ausführlichere Darstellung von Kubins Einbindung bzw. Aussperrung aus dem
Kunstbetrieb, der offiziellen und persönlichen Äußerungen (Briefwechsel, Tagebü¬
cher) sowie von publizierten Texten und Graphiken soll die Basis für die in meinem
Referat zentrale Frage bilden, wie weit Kubin oder ob er überhaupt der ‚Inneren
Emigration“ zugeordnet werden kann. In einem weiteren Kontext soll der Vortrag
einen Beitrag leisten zu einer auf die österreichische Situation anwendbaren Definition
des Begriffs „Innere Emigration“.
Die beiden Ausschnitte aus zeitgenössischen Zeitschriftenartikeln sollen eine Facet¬
te der Kubin-Rezeption im Dritten Reich verdeutlichen, und zwar jene, in der versucht
wurde, eine Verbindung seiner Werke mit der nationalsozialistischen Ideologie herzu¬
stellen. 1939 sieht der Pressereferent im NS-Fliegerkorps Gruppe 17 (Österreich),
Meinhart Sild?, in Kubins Graphiken die Darstellung des untergehenden Bürgertums,
dem der Nationalsozialismus als angeblich „bessere“ Weltordnung folgen könne.
(Beispiel 1, unten). Der Kunstkritiker Fritz Nemitz? erachtet es 1943 offenbar nicht
mehr als notwendig, auf Kubins ‚‚Deutschtum“ hinzuweisen. Ihn beschäftigt vor allem
das Phantastische in den Werken, von dem er annimmt, daß es vor allem auf ,,den
naiven und unverbildeten Menschen“ — eine Umschreibung für Rezipienten antimo¬
derner Kunstströmungen — wirke. (Beispiel 2, links, schmale Spalte).
Beispiel 1: Meinhart Sild: Alfred Kubin. Ein Beitrag zur historischen Trigono¬
metrie der Gegenwart. (Aus: Nationalsozialistische Monatshefte, 10. Jg., Heft
111, S. 517ff.)
[...] Es muß zuerst eingesehen werden, daß Kubins Werk — als Wirklichkeit — nicht der
künstlerischen, sondern der politischen Wertung unterliegt. Dies ist allerdings keine Erkenntnis,
sondern eine Sache des Blickes, — eben des politischen Blickes, für den es eine „unpolitische
Kunst“, das heißt: eine Kunst, die in keiner Beziehung zur Herrschaft oder zur Macht steht, nicht
oder doch nicht mehr gibt; Untergangsstimmung: Furcht, Entsetzen, Verzweiflung; Sinn-,
Ordnungs- und Rechtlosigkeit; kein Glaube, keine Hoffnung. Die Zukunft als Bedrohung. Und
alles dies als einzige Gewißheit!
Alfred Kubin stellt diesen Untergang der bürgerlichen Welt dar. Bilder wie ,,Gestrandeter Hai“,
„Das Lebensschiffchen“ oder „Vor den Stufen“ sind Spitzen der Einheit des ganzen Werkes,
das unmittelbar einen Gesamteindruck hinterläßt: die Darstellung sterbenden und verwesenden
Lebens, des Todes, der Krankheit, des Grauens; das Leben im unentrinnbaren Zusammenhang
mit dem Sumpf. Und nur diese Seite des Lebens: hier wurde ein Zustand festgehalten, dessen
einzige und notwendige Folge und Konsequenz der Untergang ist. Und durch die Sprünge und
Risse im Bau der Welt quillt alles ausfüllend der Ekel. [...]
In einer einzigen Zeichnung „‚Der Untergang“ versucht Kubin eine unmittelbare Darstellung des
Unterganges der bürgerlichen Welt. Dieses Werk ist in mancher Hinsicht aufschlußreich: einmal
darin, daß der Untergang als Ereignis gesehen wird, als zeitliche und räumliche Verdichtung
eines dauernden und umfassenden Vorganges; was notwendig der Blickrichtung aus der bürger¬
lichen Welt entspricht. Zum anderen durch die entscheidende Rolle, die Kubin der Technik
beimißt. Es ist richtig und bezeichnend, daß der Bürger die Technik als Gefahr empfindet, daß