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Ilse Pollack

Dreißig Jahre nach ihrer Erstveröffentli¬
chung in Italien sind nun auch auf Deutsch
die Aufzeichnungen des Triestiner Schrift¬
stellers Giorgio Voghera aus seinen Jahren
im Kibbuz (Ghivat-Brenner), in den er im
Jänner 1939 eingetreten war, im Bleicher
Verlag erschienen.

,,Quademo d’Israele“, also einfach: ,,Heft
aus Israel“ heißt der italienische Titel dieses
Roman-Essays, der wohl auch als eine Art
Tagebuch bezeichnet werden kann, und in
dem private Erinnerung und historische Zeu¬
genschaft eine gelungene Verbindung einge¬
hen, die dieses Werk zu einer faszinierenden
Lektüre werden läßt über ‚‚die für die Geburt
Israels entscheidenden Jahre“. So lautet übri¬
gens auch der Anhang aus dem Jahre 1973,
der in der vorliegenden deutschen Ausgabe
(so wie in derzweiten, überaus erfolgreichen
Auflage des Mailänder Verlages Mondadori,
1980) dem sehr persönlichen Quaderno bei¬
gefügt ist, und in dem sich der Autor bemü߬
igt fühlte, jene politischen, wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Aspekte ‚„‚nachzulie¬
fern“, die manche Kritiker an seinem ‚allzu
autobiographischen“ Buch vermißten.
Obwohl man beide Texte getrennt lesen
kann, bilden sie in gewissem Sinn eine Ein¬
heit, denn das ‚„Hintergrundwissen“, das
Voghera in dem späteren Text einbringt, ist
ebenso dazu angetan, manche Episode aus
dem Quaderno zu erhellen, wie umgekehrt
die — niemals trockenen Fakten — des An¬
hangs durch die geschilderten Erlebnisse
eine illustrative Bereicherung erfahren.

Im Herbst 1938 wurde derdamals dreißigjäh¬
rige Giorgio Voghera aufgrund der Mussoli¬

nischen Rassengesetze von seiner Tätigkeit
als Angestellter der Triestiner Versiche¬
rungsanstalt ‚„Riunione Adriatica di Sicuri¬
tä“ (RAS) entlassen. Noch im gleichen Jahr
gelang es dem ‚„eingefleischten Antifaschi¬
sten“ (als antifascista viscerale pflegt der
heute Neunzigjährige sich noch immer zu
charakterisieren), auf einem Schiff des Trie¬
stiner Loyd und ausgestattet mit einem gülti¬
gen Visum nach Palästina auszuwandern.
Ein Glück, das seiner Cousine Alda Morpur¬
go wenig später bereits verwehrt blieb, da,
wie bekannt, die englische Mandatsverwal¬
tung die Einwanderung nach Palästina dra¬
stisch beschränkt hatte.

Es besteht kein Zweifel, daß im Falle Voghe¬
ras dieses Glück in gewisser Weise vorpro¬
grammiert war, war doch derLeiterdes Trie¬
stiner Comitato degli emigranti ebrei sein
Onkel und hatte Giorgio Voghera selbst 1938
dort für kurze Zeit als Angestellter gedient.
In Palästina versuchte er zunächst in Jerusa¬
lem, Tel Aviv und Haifa eine Arbeitzu finden
— allerdings mit „ziemlich wenig Enthusias¬
mus und geringer Überzeugung. Ich war mir
derProbleme bewußt, auf die eine Person wie
ich in dem sehr schwierigen Ambiente der
damaligen palästinensischen Städte unwei¬
gerlich gestoßen wäre, und wußte eigentlich
im vormhinein, daß die beste, ja die einzige
Lösung für mich der Kibbuz war.“!

Seine „geringe Eignung für den Lebens¬
kampf“ wie auch die Hoffnung, in der Ge¬
meinschaft des Kibbuz, bei der ‚Geld, Erfolg
und Karriere keine Rolle spielten“, eher eine
Lebenspartnerin zu finden als im kleinbür¬
gerlichen Triest seiner Herkunft, wo dies als

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conditio sine qua non ihm bis dato im Wege
gestanden hatte’, haben nach eigenen Aussa¬
gen bei dieser Entscheidung eine wesentliche
Rolle gespielt.

Dennoch wird schon auf den ersten Seiten
des Quaderno klar: Der hypersensible, durch
und durch intellektuelle Städter und Ich-Er¬
zähler Gerschon fühlt sich in der kollektiven
Agrarsiedlung meist fremd und isoliert und
den sehr harten Arbeitsbedingungen körper¬
lich vielfach nicht gewachsen.

Als Bereicherung im positiven Sinn erfährt
Gerschon hingegen die Begegnung mit so
vielen und verschiedenen Menschen ,,aus
den seltsamsten und femsten Ländern“, mit
denen ihn sowohl Sympathien wie — bei al¬
lem Verständnis, das zu zeigen der Autor
immer bemüht ist — ausgeprägte Antipathien
verbinden. Neben seinem italienischen
Freund Marco Pietri (dem das Buch auch
gewidmet ist) steht ihm der mit einigen kör¬
perlichen Gebrechen aber mit einem glaskla¬
ren Geist ausgestattete Berliner Jude Jakob
am nächsten — wie er sich insgesamt mit den
deutschen Juden, ,,die mehr die Ideale der
Sozialdemokratie als jene des Nationalismus
hochhalten“, auf menschlicher Ebene am be¬
sten zu verstehen scheint. Die größte Bewun¬
derung bringt erjedoch den osteuropäischen
Juden, vor allem den polnischen, entgegen,
deren „unglaubliche Zähigkeit, Wendigkeit
und Anpassungsfahigkeit“, ,, unermiidlichen
Willen, dem Leben trotz aller Gefahren, Lei¬
den und Entbehrungen etwas Gutes abzuge¬
winnen“, Wissendurst und ,,unendliche Be¬
reitschaft, Opfer zu bringen“, er in einem
anderen Freund, dem Schneider Saul, leib¬
haftig verkörpert sieht.

Ein herzliches Verhältnis verbindet Ger¬
schon auch mit Elia, einem jementischen Ju¬
den, der ihn in das Haus seines Großvaters,
eines Rabbiners mitnimmt — wobei in der
Schilderung dieser so archaischen, von stren¬
gen Gebräuchen geregelten, aber authenti¬
schen Welt, dergroße Respekt des assimilier¬
ten italienischen Juden deutlich zu erkennen
ist.

Am schärfsten hingegen verfährt Gerschon
mit seinen italienischen Landsleuten, ortet er
doch bei ihnen einen besonders heftigen jü¬
dischen Nationalismus, der dem gelemten
Triestiner von vomherein suspekt ist. So wie
jene in ihrer Heimatstadt übertriebene italie¬
nische Patrioten gewesen seien, wären sie
nun, da die Italiener sie nicht mehr bei sich
wollten, ‚‚mit einem Male felsenfest davon
überzeugt, daß gerade das jüdische Volk das
größte, zivilisierteste, das ruhmreichste und
verdienstvollste von allen Völkern sei.“

Der Autor konzentriert hier seine Kritik vor
allem auf die blinde Übernahme bestimmter
zionistischer Glaubenssätze, sowie auf Tra¬
ditionen, die, so wie ihm selbst, bis dato auch
den assimilierten italienischen Juden völlig
fremd gewesen seien. Obwohl er sich davor
hütet zu generalisieren, findet er doch mitun¬
ter vielleicht zu harte Worte für die ebrei
italiani, deren „besondere Vorliebe für auf
so schwachen Füßen stehende und willkürli¬