Reinhard Fehling, Komponist, Hochschul¬
lehrer und Chorleiter an der Universität
Dortmund, hat soeben eine 238-seitige Parti¬
tur des oratorischen Liederzyklus „Gewaltig
ist das Leben“ vorgelegt. Das knapp 50¬
minütige Werk für Kammerorchester, Soli,
Soloensemble und Chor umfasst 23 Stücke
und wurde inzwischen in den westfäli¬
schen Städten Kamen, Unna, Hagen und
Dortmund, sowie in der Leipziger Oper
aufgeführt. Eine Aufführung in Wien im Kra¬
mer-Jahr 1997, obgleich der Stadt vom Kom¬
ponisten angeboten, kam nicht zustande.
Stimmen:
Reinhard Fehling in einem den Zyklus ein¬
leitenden kurzen Essay „Vom Rand des All¬
tags“ zu seinem Kramer-Erlebnis:
„Zu Kramers Gedichten zieht mich eine ver¬
traute Grundstimmung, die Gewalt seiner
Sprache, gerade da, wo sie einfach und
schlicht ist ... Sie hat etwas Eruptives, Unvor¬
hersehbares, fast möchte ich sagen Unreines.
Seine Verse sind, bei aller Planung, Wildbä¬
che des Gefühls, die fortreißen oder verwei¬
len, verwirbeln oder bis zum Grund klar sind,
jedenfalls anderen Gesetzen gehorchen, als
denen abgezirkelter Architektur ... Kramer
geht es weniger um die Klangoberfläche des
Wortes als um ihren ‚Tief‘-Sinn. Er rührt an
Ruhendes, Verborgenes, Zugeschüttetes und
aus diesem Abtasten und Aufspüren, aus die¬
sem Stoßen auf seelischen Urgrund schnellt
unvermittelt ein poetischer Wurf empor. Er
kommt nicht über das gefeilte Ebenmaß zur
Kunst, sondern über unförmige Brocken,
nicht über den reflektierten Weg zum Par¬
nass, sondern direkt aus der Gosse ... Allen,
die wie er, niedrig stehn im Licht, gilt sein In¬
teresse; der Niedergeschlagenheit und dem
Aufbegehren, der Verwurzelung und dem
Entrissen-Sein, der Verzweiflung und der ¬
manchmal kaum erklärlichen — Lebenskraft.
So entstehen Gedichte, die mitunter wie
Volkslieder klingen und stimmen — mit ei¬
nem Riss eben. Und der geht — wie anders in
heilloser Zeit? — mitten durchs Herz.“
Dr. Andrea Reiter in einer Arbeit (geschrie¬
ben 1997 an der University of Southampton)
über Kramer-Vertonungen:
„Als ambitioniertester Versuch, Kramer¬
Texte zu vertonen, ist Reinhard Fehlings
1995 uraufgeführtes Werk ... zu ‘nennen.
23 Texte werden in sieben Stationen biogra¬
fisch geordnet zu einer Kramer-Apologie zu¬
sammengefügt. Die Einheit des Zyklus liegt,
abgesehen von den Harmonien, der konzer¬
tanten Anlage in der Tradition Schuberts, der
Verwendung der Durtonart in Verbindung
mit dem parallelen Moll und der dreiteiligen
Liedform, in Fehlings Art der Text-Appro¬
priation, der musikalischen Verstärkung der
Ballungen und Stauungen im Text und in der
Hervorhebung der von Kramer häufig be¬
nutzten Anaphern ... Der Zyklus beginnt mit
einer Komposition über den Text Mit der
Ziehharmonika, die, wiewohl strophisch an¬
gelegt und metrisch auf den Text zugeschnit¬
ten, nur instrumental zum Vortrag kommt.
Den Ausklang bildet die gekürzte vierte der
fünf Strophen (Pfingsten für zwei alte Leute),
dessen erste Zeile Fehling auch als Titel für
seinen Zyklus dient. Die Adaptierung der
Strophe kann als paradigmatisch für Fehlings
Umgang mit der Textvorlage angesehen wer¬
den: Er benützt Kramer-Texte als Material,
um seine eigene musikalische Kramer-Bio¬
grafie zu schaffen ... In diesem Sinne elimi¬
niert Fehling aus der Kramer-Strophe alles
Persönliche und erhebt die Aussage dadurch
ins Mythische ... Die Musik tut das Ihre. Die
Behandlung des Textes gemahnt an den
4. Satz von Beethovens 9. Sinfonie. Wie dort
Schillers An die Freude, so macht auch bei
Fehling der Kramer-Text nur einen Bruchteil
der Komposition aus. In einer Art nachge¬
reichter Ouvertüre werden dafür musikalisch
Themen und Motive wiederholt, die in den
einzelnen Liedern angeklungen sind. Wie das
Beispiel zeigt, greift Fehling durchaus ein in
den Text. Er wiederholt Verszeilen oder Tei¬
le davon, setzt aus Versatzstücken eines Ge¬
dichtes des öfteren auch eine zusätzliche
Strophe zusammen. Wenn nicht das ganze
Gedicht thematisch in den Zyklus passt, ver¬
wendet er nur einen Teil: so auch in O Stadt,
wo er der Kramer-Strophe einen Chor aus der
Matthäuspassion gegenüberstellt, der die
Textvorlage Wenn man Samstag die schwere
Bürotür zufällt religiös überhöht und musika¬
lisch zu einem polyphonen Höhepunkt
macht ...“
Stefan Heucke, Bochumer Komponist in ei¬
ner Konzertrezension der „Westfälischen
Rundschau“:
„... In außerordentlich klangschönen, vom
Charakter beinah immer mild-melancholi¬
schen Sätzen voller instrumentatorischer
Feinheiten, beschwört Fehling die Stimmun¬
gen der Gedichte musikalisch unmittelbar
nachvollziehbar herauf. Wer den Komponi¬
sten kennt, wusste gleich, dass die volkstüm¬
liche Weinlese längst verlorene Idylle ist, die
den Erfahrungen des Stadtlebens und der
Randexistenz Platz machen musste. ... Am
stärksten ist dies Lebensgefühl des Verloren¬
seins eingefangen in dem trostlos kargen
Lied von der schwangeren Hure. Allerdings,
wie im ganzen Zyklus zu bemerken, prote¬
stiert die Musik nicht, sondern sie klagt und
trauert. Auch im Lied von den Alten Arbei¬
tern ist der Sozialismus nostalgisch gewor¬
den und die Revolution melancholisch. Vol¬
lends das wunderbar samtig klingen Nacht¬
lied schwelgt in reinem D-Dur und von ferne
klingt Der Mond ist aufgegangen an. Ganz
persönlich empfunden wirken die Liebeslie¬
der des zweiten Teils, allen voran das zärt¬
lich-ironische Nicht wahr. Unvermittelt wird
die Freude der Zweisamkeit zerstört durch
das Gedicht Wer läutet draußen an der Tür?
Hier greift Fehling zu krassen musikalischen
Mitteln, wird sein Satz dissonanter, die In¬
strumentation schärfer, was diesem Lied und
dem folgenden ‚Die letzten Gewehre‘ beson¬
deres Profil verleiht ...“
Prof. Dr. Martin Geck, Musikwissenschaft¬
ler, Bach- und Wagner-Forscher in einer Be¬
sprechung der Uraufführung für die Neue
Musik-Zeitung:
„.. Die Partitur, vor allem in kammermusi¬
kalischer Hinsicht sehr originell und diffe¬
renziert instrumentiert, verrät den Song¬
schreiber: Viele Titel ... sind als einfaches
Lied komponiert, nicht nur chorische Zug¬
nummern wie Weinlese, Nachtlied oder Ge¬
waltig ist das Leben, sondern auch manche
Soli, in der Uraufführung von vielen wech¬
selnden Solistinnen und Solisten mit unver¬
bildeten Stimmen oft sehr anrührend vorge¬
tragen. Gleichwohl ist der Gestus keines¬
wegs naiv: zum einen hört man stechende
Töne im Sinne Eislers, zum anderen ist die
Tradition erinnert ... Für das Unternehmen
insgesamt ist bezeichnend: das musikali¬
sche Potential einer Region wird nicht um
eines beliebigen — sofern nur publikums¬
und medienwirksamen — Projekt willen ab¬
gerufen; die zumeist jugendlichen Mitwir¬
kenden sollen sich vielmehr ein Stiick musi¬
kalischer Heimat aneignen — und das kann
nicht im Nachspielen irgendeines Oratori¬
ums oder Musicals geschehen, verlangt viel¬
mehr das zielstrebige Aufgreifen spezifi¬
scher Traditionsstränge: Folk, Kirchenmu¬
sik, Arbeiterkultur, politisches und soziales
Engagement. In Fehlings ‚Projekt‘ wird Mu¬
sik als Teil der regionalen Lebenswelt greif¬
bar und entgegen der vereinzelnden Mas¬
sen- und Konzertkultur als Ausdruck ge¬
meinsamer Identität erlebbar. Dergleichen
wäre allerdings nicht denkbar ohne den im
höheren Sinne pädagogischen Eros eines
einzelnen, der als Komponist, Dirigent, Mu¬
siklehrer und Organisator in einem seine.
ganze Person in die Waagschale wirft. Das
klingt altmodisch und ist doch beispielhaft“.
Partitur und Einzelstimmen sowie eine CD
mit dem gesamten Zyklus sind über den
Komponisten zu erhalten. Kontakt: Reinhard
Fehling, Kolpingstr.16, D-59174 Kamen;
Tel. (+49) 0 23 07/222 69; E-mail: fehling@
pop.uni-dortmund.de
In Österreich kann die CD „Gewaltig ist das
Leben. Liederzyklus nach Gedichten von
Theodor Kramer“ zum Preis von 6S 210,— +
20,— Versandkosten iiber die Theodor Kra¬
mer Gesellschaft (Adresse wie MdZ) bezo¬
gen werden (oder auch bei einer unserer Ver¬
anstaltungen erworben werden).