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Wien, März neunzehnhundertachtunddreißig. An einem jener traurigen Tage des „Anschlusses, an die niemand zurückdenken kann, ohne daß sein Blut in Wallung gerät, war es eines Nachmittags auf der fast nur von Juden bewohnten Rueppgasse so still, daß ein Fremder hätte meinen können, es gäbe in dieser Straße kein einziges lebendiges Wesen mehr. Eine tote Stille. Nur von der benachbarten Nordbahn tönte das Pfeifen einfahrender Züge herüber. Ich saß weltabgeschieden in meinem Zimmer, denn es war nicht mehr möglich, auf die Straße zu gehen. Die jahrzehntelang bezaubernde Idylle des Cafe „Central“ gab es nicht mehr. Ich saß mit eingezogenem Kopf da und wollte nichts mehr hören und sehen... Die Zeitung, die ich abonniert hatte, las ich nicht, ich sah nur blicklos auf die Spalten, aus denen unendlicher Haß schrie. Plötzlich fiel mein Blick ganz von selbst auf die kurze Gerichtschronik. Ich las sie mehrere Male, denn ich traute meinen Augen nicht. Dann begann ich sie laut zu lesen, als könnte ich beim Klang der Worte die „Wahrheit“ aus den Zeilen heraushören: „Der Berliner Jude Heinrich Schneider ist wegen Rassenschande zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden.‘“* Ich kannte ihn. Ich kannte auch die Frau, deretwegen er eine so hohe Strafe erhielt. Vielleicht klangen deshalb die Worte so ungeheuer falsch und verlogen... Heinrich Schneider wohnte im zwanzigsten Bezirk in einer winkligen Straße, die einen schmalen Durchgang zur Donau bildete. Die Straße bestand aus zwei Reihen sich aneinander lehnender Häuser mit schiefen Wänden. Nur ganz früh warf die Sonne einen Blick hinein, dann versteckte sie sich hinter den Dächern, als wollte sie sich nicht mit dem Schmutz der Straße besudeln. Die Luft war dort stets faulig und schwer wie in einem alten Brunnen. Arme, verwahrloste, hungrige Kinder, Kinder, die niemandem gehörten, trieben sich von Sonnenaufgang bis spät in die Nacht in dieser fauligen Straßenluft herum, die ihre Stimmen frühzeitig heiser werden ließ und ihre Gesichtchen mit Skrofeln bedeckte... Durch die Straßen führte der Weg zu zwei Textilbetrieben und einer großen Blechfabrik. Jeden Morgen in der Frühe, wenn man in anderen Stadtteilen noch schlief, begann dort bereits hastiges Leben. Arbeiter strömten aus den Häusern, und auf den Straßen standen alte Händlerinnen mit frischen Brezeln und eben gebratenen Kartoffeln. Das große, uralte Haus Nummer Elf sah dank seiner Höhe hinweg über die anderen Häuser mit den schiefen Wänden, die heute oder morgen einzufallen drohten. Von seinen zwei Reihen Fenstern besaß keins eine gleichmäßige Form, und die Scheiben hatten die gleiche graue, staubige Farbe wie die Straße. Schneider wohnte im ersten Stock. Eine hölzerne Treppe führte zu seiner kleinen Zweizimmerwohnung. Er war Schlosser in der Blechfabrik und arbeitete schwer, um sich und seine Frau zu ernähren, eine sehr junge und sehr schöne, mittelgroße Frau mit blonden Zöpfen und gütigen, sanften Augen, die stets freundlich lächelten. Sie lebten bescheiden und von anderen abgesondert, was eine Wand zwischen Schneider und seinen Nachbarn aufrichtete. Oft, vor allem an den Sonntagen, wenn Schneider und seine Frau nicht zu Hause waren, trafen sich die Nachbarn und jeder versuchte auf seine Weise zu klären, wer und woher die Schneiders seien. Das stille, zurückgezogene Leben der Schneiders reizte die Neugier der Nachbarn. Vor allem tat es Frau Schneider, die aussah wie eine Nichtjüdin. Ehe wir uns kennenlernten, war ich Schneider schon begegnet. Das erste Mal im Cafe „Central“, wo er mit seiner Frau in einer Ecke saß und seinen „Schwarzen“ trank. Mit seinem scharfen Profil und dem dunklen, wirren Haar machte er den höre sicher zur „Boheme“, und die junge Frau neben ihm, äuBerlich ein „deutsches Gretchen“, wäre bestimmt eine der Frauen, denen es in den strahlenden Cafes mit der europäischen Geschäftigkeit zu bürgerlich war, so daß sie des Abends hierher kamen. Hierher kamen mit ihrer Grazie, ihrem Temperament und ihrer jungen Verliebtheit. Das zweite Mal begegnete ich ihm an einem Herbstabend zufällig im Wiener Stadtpark. Er saß auf einer Bank und blickte in die Tiefe des Gartens. Er sah aus, als zählte er die Blätter, die von den Bäumen fielen. Damals haben wir einander kennengelernt. Ich weiß noch, als er mich sah, lächelte er breit, als erblickte er einen alten Bekannten, dann fragte er mit singendem, feinem, deutschem Akzent: „Wir haben uns im Cafe ‚Central‘ getroffen, nicht wahr?“* Er rückte beiseite, machte mir Platz, bat mich höflich, mich neben ihn zu setzen, und betrachtete mich eine Weile mit aufmerksamem Blick. „Sie sind wohl fremd hier?“ Er fragte so vieldeutig und rasch, daß ich nicht zum Antworten kam. „Die Fremdheit zeichnet sich so deutlich im Aussehen eines Menschen ab!“ Mir schien sein Ton sehr bekümmert zu sein, auch verdunkelten sich seine Augen, so als erinnerte er sich mit einemmal an etwas Schweres. „Sie haben es erraten, ich bin kein Wiener.“ Auf seinem Gesicht erschien ein blasses, erregtes Lächeln. „Ich bin auch ein Fremder. Erst seit vier Jahren wohne ich hier mit meiner Frau.“ „Und vorher?“ fragte ich einfach so aus Neugier. „Vorher...“ Sein Gesicht veränderte sich, es wurde aschgrau und die Augen noch dunkler. Überm Park hing eine feuchte Stille. Die Bäume warfen allmählich ihr Sommerkleid ab. Ein kühler Herbstwind begann ein Liedchen zu summen. Aus einer Seitenallee kam ein Pärchen und bog in eine andere Allee ein, so leicht und leise, daß es aussah, als wandere ein schatten von einem Ort zum anderen. Ein Hund lief vorüber, kehrte plötzlich um, sah uns mit großen, erschrockenen Augen an und lief wieder weiter. Heinrich Schneider rauchte eine Zigarette und sah den Rauchwolken nach, die in der Luft zergingen. Er war nachdenklich geworden. Es war, als suchte er seine Gedanken zusammen. Einige Minuten vergingen in tiefem Schweigen. 69