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Endlich begann er. Zuerst leise, dann wurde seine Stimme fester und deutlicher: „Ich war noch nicht dreißig, als ich im Sommerurlaub nach Schweden fuhr. Es war ein stiller Morgen. Die See war ruhig, doch hin und wieder warf der Wind eine Welle auf. Ich saß auf dem Deck des Schiffes und sah in eine Zeitung. Plötzlich ging sie vorüber, so als hätte der Seewind sie hergetragen. Ich spürte ihre leichten Schritte und das Flattern ihres Kleides. Sie war sehr jung und sehr schön, so etwa zwanzig, mit langen, blonden Haaren, die ihr auf die Schultern fielen. Wie Goldgespinst sahen sie gegen die Sonne aus. Ihre Augen, blau wie die See, strahlten zart und licht. Noch nie hatte ich Augen so strahlen sehen. Wie Blumen sahen sie aus... Mir kam es so vor, als wäre sie einem nordischen Märchen entsprungen. Jede ihrer Gesten, jede ihrer Bewegungen hinterließ einen lebendigen Eindruck in meinem Gemüt. Und die plötzliche Begegnung suchte nach einer Vertiefung, nach einem Namen. Sie hatte offenbar meine Verwirrung bemerkt und meine heimlichsten Gedanken gelesen — wir lernten uns ohne Schwierigkeiten kennen. Einige Tage fuhren wir zusammen, dann stieg sie in einem Hafen aus. Wir hatten ausgemacht, uns am nächsten Tag in Stockholm zu treffen. Durch ganz Nordschweden sind wir gereist. Wir besuchten die schönsten Orte und kehrten dann gemeinsam nach Berlin zurück. Ich studierte damals Germanistik an der Berliner Universität, und sie absolvierte einen Schneiderkursus. Zwischen Freude und Hoffnung gab es Arbeit, denn ich studierte nicht bloß, ich arbeitete auch in einer Eisengießerei. Ich stammte aus einem armen jüdischen Haus in Polen und mußte mich allein durchschlagen. Wochen und Monate vergingen. Unser junges, heftiges Glück verwandelte sich in Kummer. Zweifel und Angst zogen in unsere Herzen, denn ihr Vater, ein verbohrter Deutscher, wollte nicht zulassen, daß seine reinrassige Tochter einen verfluchten Juden nahm. Es blieb dabei: Wir wollten eine bessere Zeit abwarten. Und diese Zeit kam! Es kam das Jahr dreiunddreißig... Ich wurde bald darauf in einem Konzentrationslager inhaftiert. Endlos begann sich die Zeit in die Länge zu ziehen. Es sah so aus, als sollte bereits dort mein Leben zu Ende gehen. Von niemandem hörte ich etwas, auch von ihr nicht. Wieso schwieg sie? War sie vielleicht auch von jenem Gift verdorben worden, das Deutschland überschwemmte? So dachte ich oft, ich verfluchte in solchen Augenblicken alles auf der Welt und sehnte den Tod herbei. Nur manchmal, wenn ein bläulicher Abend durch die vergitterten Fenster sah, kam sie auf einer Brücke aus Mondstrahlen zu mir mit ihrem strahlenden Lächeln. Das war mein Traum, das Lied meiner Seele... Bis eines Abends Traum und Wirklichkeit eins wurden! Ich war auf dem Hof des Lagers, da flüsterte plötzlich jemand durch einen Spalt im Zaun: ‚Heinrich!‘ Ich sah ein Stück eines blassen Gesichts und die Augen. Sie war es! ‚Schnell‘, rief sie leise, ‚schnell! Ich habe alles vorbereitet, komm!‘ Damals konnte man sich noch loskaufen. Und ehe es Tag wurde, saßen wir schon im Zug, der nach Wien fuhr.“ Er unterbrach seine Erzählung für einen Moment und wurde nachdenklich, seine Blicke wanderten zwischen den Bäumen herum. 70 „Seit damals sind vier Jahre vergangen. Vier Jahre, wir wohnen in Wien, und keiner kennt uns. Wir wohnen mit Nachbarn in einem Haus, und keiner weiß, wer wir sind. Fremde — und fertig...“ Er verstummte und sah mich an. Ein Wind fuhr durch die Bäume, berührte sacht die gelben Blätter und kehrte zurück in sein ruhiges Versteck. Wir verließen den Park. Wien leuchtete mit Tausenden von Augen. Autos und StraBenbahnen fuhren in größter Eile dahin und erfüllten die Straßen mit Hast. Irgendwo gellten Fabrikssirenen und tuteten abgehende Schiffe auf der Donau. Dicht neben uns fuhr ein Lastwagen vorbei, vollgepackt mit alten Möbeln. Ein Kind saß obenauf und besah mit fröhlichen Blicken die Straße, die ihm neu erschien. Eine Bettlerin trat auf uns zu. Sie streckte eine magere, mit blauen Adern überzogene Hand aus und bat mit heiserer Stimme: „Gebt etwas, gute Herren!“ Plötzlich lachte sie auf: „Hi, es ist kalt geworden, und ich habe kein Nachtlager... Gestern schlief ich unter der Nordbahnbrücke, von dort hat mich die Polizei vertrieben.“ Wir gaben ihr ein paar Groschen. Sie hielt sie vor ihre alten Augen, betrachtete sie von beiden Seiten und ging dankend fort. Gemächlich spazierten wir den Stubenring hinunter. Am Donaukanal blieben wir stehen, Heinrich Schneider reichte mir seine Hand und verabschiedete sich von mir. Ich stand noch eine Weile da und sah ihm nach, wie er zwischen den Menschen verschwand, unter denen er als ein Fremder lebte... Aus: Josef Burg: Ein Gesang über allen Gesängen. Erzählungen und Skizzen. Leipzig 1993. —- Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.