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„Sie sind ein geniales Weib ...“ - Erinnerungen von Anna Maria Jokl Mit ihrem nun vorliegenden Buch „Die Reise nach London. Wiederbegegnungen“ setzt Anna Maria Jokl (vgl. auch MdZ Nr. 3/ 1997) die eindrucksvolle Serie von Buchpublikationen einer nunmehr bald Neunzigjährigen in den neunziger Jahren fort. Dazu zählen der Essay- und Skizzenband „Essenzen“ (1993, erweitert 1997), die zum ersten Mal in Buchform veröffentlichte analytische Studie „Zwei Fälle zum Thema Bewältigung der Vergangenheit“ (1997), die Neuauflagen der Romane „Die Perlmutterfarbe“ (gegenüber der Erstausgabe von 1948 leicht bearbeitet, 1992) und „Die wirklichen Wunder des Basilius Knox“ (tsch. Übersetzung, 1938; dt. 1948/1997) — und schließlich „Die Reise nach London“ (1999). Damit setzt sich eine - nicht nur - schriftstellerische Karriere fort, die bereits rund sechzig Jahre zuvor vielversprechend begann Es hat den Anschein, als habe man trotz des 1995 für das Gesamtwerk verliehenen HansErich-Nossack-Preises noch nicht gebührend Notiz davon genommen. Warum Jokl — der das möglicherweise gar nicht recht wäre — noch nicht längst vom Literaturbetrieb als „Große alte Dame“ der deutschsprachigen Exilliteratur gefeiert wird, ist ein Rätsel. Ihr neuestes Buch ist in jedem Fall gewichtiges Argument für eine neue — auch (literatur)wissenschaftliche — Beachtung der Werke einer Autorin, die als eine vielseitig begabte Persönlichkeit und als schillernde Figur gelten kann. Wem Anna Maria Jokl noch gänzlich unbekannt ist, bietet sich die Gelegenheit, mit „Die Reise nach London“ wenigstens Ausschnitte aus ihrem bewegten Leben kennenzulernen. Mit Norbert Gstreins „Die englischen Jahre“ (Alfred-Döblin-Preis) und Jokls „Die Reise nach London“ gerät das deutschsprachige Exil in Großbritannien wieder ins Blickfeld. Bei Anna Maria Jokl, allerdings aus „erster Hand“. Es bedurfte keiner Kunstgriffe, um Spannung zu erzeugen. Auch hat Jokls authentisches Buch den Vorzug, wenigstens einige weniger bekannte oder neue Details zu Personen und Hintergründen zu enthüllen. Daneben erinnert die Autorin sehr intime, persönliche Begegnungen, darunter zwei Liebesgeschichten, auf deren Spur sie — mal gewollt, mal ungewollt — mit einem Abstand von Jahren gerät. Der Ausgangspunkt des neuen Buches von Jokl war eine längst zurückliegende „Reise nach London“ - von Jerusalem aus - im Jahre 1977, erste Wiederbegegnung mit der vertraut-unvertrauten Stadt, die ihr von 1939 bis 1950 erst Zufluchtsstätte, dann Aufenthaltsort, aber niemals Heimat war. Ihre Lebensodyssee hatte ihren Ausgang von Wien genommen, wo Anna Maria Jokl 1911 zur Welt kam. Dann folgte die Wahlheimat Berlin am Ende der zwanziger, zu Beginn der dreißiger 76 Jahre. Dann — unterbrochen von einem Zwischenspiel in Paris —- Prag bis zum Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1939 — erste Stationen, aber keinesfalls das Ende einer unsteten „Reise“ durch die Metropolen Europas. So ist uns „Die Reise nach London“ Wegweiser auf der Fährte von Anna Maria Jokl. Zu Beginn des Buches nimmt Jokl die Eindrücke vom London des Herbstes 1977 zum Anlaß für einen retrospektiven Blick auf ihre Ankunft 1939. Fluchtweg aus dem gerade besetzten Prag war auch für Jokl der damals übliche übers polnische Katowice, vom Hafen Gdynia (Gdingen) in der Danziger Bucht aus, über Skandinavien nach Südengland. So ist er — mehr oder weniger ähnlich — auch an anderer Stelle dokumentiert und beschrieben worden: z. B. in literarischen Werken von Ludwig Winder und Ernst Sommer. Die Umstände des Transfers durch Schweden scheinen dennoch erwähnenswert. Da ist die Rede von der Ankunft im englischen Tilbury „nachdem wir [...] die ganze Reise im plombierten Waggon, das märchenhaft geordnete Schweden durchquert hatten.“ (S.16) Aufschlußreich sind die Ausführungen über die deutschsprachige tschechoslowakische Exilszene in England, über deren Alltag bisher nicht sehr viel bekannt ist. Wie viele aus Prag versprengte Flüchtlinge genoß Anna Maria Jokl Unterstützung durch tschechoslowakische Exilorganisationen, obwohl sie nicht CSR-Bürgerin war. Nur vor diesem Hintergrund und der relativen Besserstellung von Flüchtlingen aus der SR in Großbritannien, auch gegenüber den nicht nur angenehmen Bedingungen des deutschen und österreichischen Exils in Prag bis 1939, erklärt sich das Fazit Jokls, London hätte „materiell eine außerordentliche Verbesserung“ (S. 17) dargestellt. Besonderes Gewicht legt die Autorin hierbei auf die Rolle des Czech Refugee Trust Fund, der wesentlich die Organisation sowie die finanzielle und logistische Unterstützung der Flüchtlinge aus der CSR innehatte. Von Dankbarkeit und Wohlwollen geprägt ist ihre Schilderung der Aufnahme durch die englische Bevölkerung — eine Ausnahme bilden folgenreiche Verhöre durch Scotland Yard zur Untersuchung ihrer vermeintlichen Zugehörigkeit zu den Kommunisten. In besonderem Maße nahm Anna Maria Jokl an der tschechoslowakischen deutschsprachigen Szene in Großbritannien teil. So berichtet sie über ihre Arbeit als Leiterin einer Kinder-Kulturgruppe während der Evakuierung aus dem bombenbedrohten London in die Provinz und ihre Annäherung an die tschechische Jugendorganisation „Young Czechoslovakia“, den - dem Anspruch nach — überparteilichen Dachverband von Jugendorganisationen des tschechoslowakischen Exils. Kabarettartige Revuen, die sie in diesem Rahmen entwarf und auch in London zur Auführung brachte, wurden offenbar zum Ereignis: Jokl wurde „zu einer bekannten Tschechoslowakin“. Der Premierenbesucher Oskar Kokoschka, der 1937 bereits das Nachwort zum „Basilius Knox“ verfaßt hatte, gratulierte: „Sie sind ein geniales Weib ...“ Ihre (sonstige) literarische Beteiligung an der tschechoslowakischen Exilszene spart Jokl in ihren Erinnerungen aus. Dabei dokumentiert die Aufnahme ihrer Erzählung „Die Deutung“ in die bekannte von Paul Reimann und Rudolf Popper herausgegebene ExilAnthologie „Stimmen aus Böhmen“ (London 1944) — deutlich, daß sie sowohl als Autorin als auch - trotz ihrer österreichischen Herkunft — als Figur der tschechoslowakischen Exilszene akzeptiert, ja geschätzt wurde. Der Prager Franz Carl Weiskopf erwähnt sie in seinem Abriß der deutschen Literatur im Exil „Unter fremden Himmeln“ (1948) mehrfach. Jokl war Teilnehmerin an der „Landeskonferenz der deutschen Antifaschisten aus der Tschechoslowakischen Republik“ vom 16./17. Oktober 1943, bei der - unter anderem -— der durch den Nationalsozialismus hervorgerufene kulturelle Schaden bilanziert wurde, mit dem Ziel, Zukunftsperspektiven für die Nachkriegszeit zu entwickeln. Zu den übrigen Teilnehmern, mit denen sie auch Umgang gehabt haben dürfte, gehörte mit Ernst Sommer einer der produktivsten emigrierten Schriftsteller aus Böhmen und Mähren, dazu der umtriebige Paul Reimann und der Zeichner und Journalist Helmut Krommer, stolzer Großneffe des Bauernbefreiers Hans Kudlich und Vater der Dichterin Anna Krommer. (Vgl. dazu MdZ 11 [1994]/4, MdZ 12 [1995]/3.) Unberücksichtigt blieben in „Die Reise nach London“ nicht nur weitgehend Erinnerungen an diese genannten Personen, sondern auch Hinweise auf die teilweise erbitterten Konflikte, die sich zum Beispiel um den Kurs gegenüber der Sowjetunion und um Fragen der nationalen Minderheiten — vor allem um die Zukunft der Deutschen in der CSR — zwischen Exilregierung, Kommunisten und Sozialdemokraten und innerhalb der Sozialdemokraten entzündeten. Die „Einheitsfront“ gegen den Faschismus, die Jokl als vergleichsweise undogmatisch, menschlich und